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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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zugenommen hatte seit ihrer letzten Begegnung, die aber auch schon viele Jahre zurücklag, und damals war Klaus noch ein großer Junge gewesen. Als die Anwältin ihr alle Morde aufzählte, die ihm angelastet wurden, dachte Lotte, dass diese Leute nicht ganz bei Trost waren. Niemand, der noch alle Tassen im Schrank habe, sagte sie, sei imstande, so viele Frauen umzubringen.
    Die Anwältin lächelte und sagte, in Santa Teresa gebe es jemanden, der wahrscheinlich nicht alle Tassen im Schrank habe und genau das tue.
    Das Büro der Anwältin lag im vornehmen Teil der Stadt, im gleichen Gebäude, in dem sich auch ihre Wohnung befand. Es gab zwei verschiedene Eingänge, aber das Gebäude war das gleiche, mit zwei oder drei zusätzlich eingezogenen Wänden.
    »Ich wohne genauso«, sagte Lotte, was die Anwältin nicht verstand, und Ingrid musste ihr erst von sich aus das mit der Werkstatt und der darüberliegenden Wohnung erklären.
    Auf Empfehlung der Anwältin bezogen sie das beste Hotel der Stadt, das Las Dunas, obwohl es in Santa Teresa weit und breit keine Dünen gab, wie Ingrid wusste, in der Umgebung nicht und nicht im Umkreis von hundert Kilometern. Lotte hatte ursprünglich zwei Zimmer nehmen wollen, aber Ingrid redete ihr zu, dass eins reiche und billiger sei. Schon lange hatte Lotte kein Zimmer mehr mit jemandem geteilt, und in den ersten Nächten fand sie erst spät Schlaf. Um sich abzulenken, schaltete sie den Fernseher ohne Ton ein und schaute vom Bett aus zu, wie Leute redeten und gestikulierten und sich bemühten, andere Leute von etwas zu überzeugen, das wahrscheinlich wichtig war.
    Nachts liefen viele Sendungen mit Fernsehpredigern. Die mexikanischen Fernsehprediger waren leicht zu erkennen: Sie hatten dunkle Haut und schwitzten stark, und ihre Anzüge und Krawatten sahen aus wie aus dem Secondhand laden, obwohl sie wahrscheinlich nagelneu waren. Außerdem wirkten ihre Predigten dramatischer, spektakulärer, und es gab eine stärkere Beteiligung des Publikums, das übrigens unter Drogen zu stehen oder todunglücklich zu sein schien, im Gegensatz zum Publikum US-amerikanischer Fernsehprediger, die genauso schlecht gekleidet waren, aber zumindest so aussahen, als hätten sie einen festen Job.
    Vielleicht denke ich das nur, dachte Lotte in der Nacht an der mexikanischen Grenze, weil sie weiß sind, weil einige vielleicht von Deutschen oder Holländern abstammen, mir also näherstehen.
    Wenn sie endlich bei laufendem Fernseher einschlief, träumte sie meist von Archimboldi. Im Traum saß er auf einem riesigen Lavafeld, in zerlumpter Kleidung, eine Axt in der Hand, und sah sie traurig an. Vielleicht ist mein Bruder gestorben, dachte Lotte im Traum, aber mein Sohn lebt.
    Am zweiten Besuchstag erzählte sie Klaus so schonend wie möglich, dass Werner vor etlichen Jahren gestorben sei. Klaus hörte zu und nickte, ohne eine Miene zu verziehen. Er war ein guter Mensch, sagte er, sagte es aber so unbeteiligt, als spräche er von einem Zellengenossen.
    Am dritten Tag, Ingrid las in einer Ecke des Raums ein Buch, fragte Klaus sie nach seinem Onkel. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, sagte Lotte. Klaus' Frage jedoch überraschte sie, und unwillkürlich erzählte sie ihm, dass sie seit ihrer Ankunft in Santa Teresa von ihm träume. Klaus bat sie, ihm einen Traum zu erzählen. Nachdem Lotte das getan hatte, gestand er ihr, dass auch er seit langem regelmäßig von Archimboldi träume und dass es keine guten Träume seien.
    »Was für Träume hast du?«, fragte Lotte.
    »Schlechte Träume«, sagte Klaus.
    Dann lächelte er, und sie wechselten das Thema.
    Wenn die Besuche vorüber waren, fuhren Lotte und Ingrid mit dem Wagen durch die Stadt, einmal auch zum Markt, wo sie indianisches Kunsthandwerk kauften. Lotte war der Ansicht, indianische Kunstgegenstände würden in China oder Thailand hergestellt, aber Ingrid gefielen sie, und sie kaufte drei Figürchen aus Terrakotta, unglasiert und unbemalt, drei sehr plumpe, stämmige Figürchen, die Vater, Mutter und Kind darstellten, und schenkte sie Lotte mit den Worten, die Figürchen würden ihr Glück bringen. Eines Morgens flogen sie zum deutschen Konsulat nach Tijuana. Sie wollten mit dem Auto fahren, aber die Anwältin riet ihnen, das Flugzeug zu nehmen, das einmal am Tag zwischen beiden Städten verkehrte. In Tijuana bezogen sie ein Hotel im touristischen Zentrum, das laut und voller Gäste war, die nicht wie Touristen aussahen, wie Lotte meinte, und noch am gleichen

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