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Morgen konnte sie mit dem Konsul sprechen und ihm den Fall ihres Sohnes schildern. Anders als sie erwartet hatte, war der Konsul über die ganze Angelegenheit im Bilde, auch habe, wie er ihnen erklärte, ein Konsulatsvertreter Klaus besucht, ein Umstand, den die Anwältin heftig bestritten hatte.
Möglich, sagte der Konsul, dass die Anwältin nichts von dem Besuch wusste oder dass sie noch nicht Klaus' Anwältin war oder dass Klaus es vorzog, ihr nichts zu sagen. Außerdem sei Klaus schließlich und endlich Bürger der Vereinigten Staaten, und das führe zu einer Reihe von Problemen. In dieser Angelegenheit müsse man behutsam zu Werke gehen, schloss der Konsul, und es helfe nichts, dass Lotte versichere, ihr Sohn sei unschuldig. Auf jeden Fall hatte sich das Konsulat in die Sache eingeschaltet, und Lotte und Ingrid kehrten beruhigter nach Santa Teresa zurück.
An den letzten beiden Tagen konnten sie Klaus weder besuchen noch anrufen. Die Anwältin sagte, die Hausordnung des Gefängnisses erlaube es nicht, dabei wusste Lotte, dass Klaus ein Handy besaß und manchmal den ganzen Tag über nach draußen telefonierte. Sie hatte jedoch keine Lust, einen Skandal vom Zaun zu brechen oder sich mit der Anwältin zu überwerfen, und nutzte die beiden Tage, um in der Stadt herumzulaufen, die ihr mehr denn je bunt zusammengewürfelt vorkam und nur mäßig interessant. Vor der Abreise schloss sie sich in ihr Hotelzimmer ein und schrieb einen langen Brief an ihren Sohn, den die Anwältin ihm übergeben sollte, wenn sie fort war. Mit Ingrid fuhr sie sich das Haus anschauen, das Klaus in Santa Teresa bewohnt hatte, so wie man sich eine Sehenswürdigkeit anschaute, und sie fand es ganz annehmbar, ein Haus im kalifornischen Stil, hübsch anzusehen. Dann fuhr sie zu dem Geschäft für Computer und Elektrogeräte, das Klaus in der Innenstadt besaß und das geschlossen war, wie die Anwältin ihr vorausgesagt hatte, denn das Geschäft war Klaus' Eigentum, und er hatte es nicht vermieten wollen, weil er darauf vertraute, noch vor dem Prozess freizukommen.
Zurück in Deutschland wurde ihr schlagartig bewusst, dass die Reise sie viel mehr Kraft gekostet hatte, als sie selbst erwartet hätte. Sie lag mehrere Tage im Bett und ging nicht ins Büro, aber jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, eilte sie an den Hörer, als wäre der Anruf aus Mexiko. In einem der Träume, die sie in jenen Tagen hatte, flüsterte ihr eine sehr warme und zärtliche Stimme ins Ohr, ihr Sohn sei möglicherweise wirklich der Frauenmörder von Santa Teresa.
»Das ist lächerlich«, schrie sie und wachte davon auf.
Wer sie manchmal anrief, war Ingrid. Sie sprachen nicht lange, die junge Frau erkundigte sich, wie es ihr ging und ob es Neuigkeiten von Klaus gab. Das Sprachenproblem hatte sich durch den Austausch von E-Mails gelöst, die sich Lotte von einem ihrer Mechaniker übersetzen ließ. Eines Nachmittags kam Ingrid mit einem Geschenk bei ihr vorbei, einem deutsch-spanischen Wörterbuch, für das Lotte sich überschwänglich bedankte, obwohl sie im Grunde überzeugt war, dass es sich um ein vollkommen nutzloses Mitbringsel handelte. Als sie sich wenig später jedoch die Fotografien ansah, die sich in dem Bericht über Klaus' Fall befanden, den die Anwältin ihr gegeben hatte, nahm sie Ingrids Wörterbuch zur Hand und schlug einige Vokabeln nach. Tage später stellte sie zu ihrem nicht geringen Erstaunen fest, dass sie über eine natürliche Sprachbegabung verfügte.
Im Jahr 1996 reiste sie erneut nach Santa Teresa und bat Ingrid, sie zu begleiten. Ingrid hatte damals einen Freund, der in einem Architekturbüro arbeitete, auch wenn er kein Architekt war, und eines Abends luden die beiden Lotte zum Essen ein. Der junge Mann war sehr interessiert an dem, was in Santa Teresa vorging, und einen Moment lang vermutete Latte, Ingrid wolle gemeinsam mit ihrem Verlobten reisen, aber Ingrid sagte, sie seien noch nicht verlobt, und sie sei bereit, sie zu begleiten.
Der Prozess, der 1996 stattfinden sollte, wurde im letzten Moment verschoben, und Lotte und Ingrid blieben neun Tage in Santa Teresa, besuchten Klaus, so oft es ging, fuhren mit dem Auto durch die Stadt und sahen in ihrem Hotelzimmer fern. An manchen Abenden verkündete Ingrid, sie wolle in der Hotelbar noch etwas trinken oder in der Diskothek des Hotels tanzen gehen, und dann blieb Lotte allein und wechselte den Kanal, denn Ingrid stellte immer englischsprachige Programme an, während sie lieber mexikanische
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