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Sendungen sah, auch eine Art, dachte sie, ihrem Sohn näher zu kommen.
Zweimal kehrte Ingrid erst nach fünf Uhr morgens ins Zimmer zurück, und jedes Mal war Lotte noch wach, saß am Fußende des Bettes oder in einem Sessel, und der Fernseher lief. In einer der Nächte, in denen Ingrid fort war, rief Klaus sie an, und Lottes erster Gedanke war, Klaus sei aus diesem schrecklichen Gefängnis am Rande der Wüste geflohen. Klaus, dessen Stimme ganz normal und eher entspannt klang, fragte sie, wie es ihr gehe, und Lotte antwortete, es gehe ihr gut, und wusste nichts mehr zu sagen. Als sie sich wieder im Griff hatte, fragte sie, von wo aus er anrufe.
»Aus dem Gefängnis«, sagte Klaus.
»Wie kommt es, dass man dir erlaubt, um diese Zeit anzurufen?«, fragte sie.
»Niemand erlaubt mir irgendwas«, sagte Klaus und lachte. »Ich rufe von meinem Handy aus an.«
Da fiel Lotte wieder ein, dass die Anwältin ihr gesagt hatte, dass Klaus eins besitze, und sie redeten über dieses und jenes, bis Klaus sagte, er habe einen Traum gehabt, und dabei veränderte sich seine Stimme, es war keine gelassene, lässige Stimme mehr, sondern eine der tiefen Töne, die Lotte daran erinnerte, dass sie in Deutschland einmal einen Schauspieler ein Gedicht hatte vortragen hören. An das Gedicht erinnerte sie sich nicht, sicher etwas Klassisches, aber die Stimme des Schauspielers war eine, wie man sie niemals vergaß.
»Was hast du geträumt?«, fragte Lotte.
»Weißt du es nicht?«, fragte Klaus.
»Keine Ahnung«, sagte Lotte.
»Dann ist es besser, ich sage es dir nicht«, sagte Klaus und unterbrach die Verbindung.
Lottes erster Impuls war, ihn sofort zurückzurufen und das Gespräch fortzusetzen, aber im nächsten Moment fiel ihr ein, dass sie seine Nummer nicht hatte, weshalb sie nach kurzem Zögern Victoria Santolaya anrief, obwohl sie wusste, dass es sich nicht gehörte, um diese Zeit jemanden anzurufen, und als die Anwältin endlich abnahm, erklärte ihr Lotte in einer Mischung aus Deutsch, Spanisch und Englisch, dass sie Klaus' Handynummer brauchte. Nach langem Schweigen diktierte ihr die Anwältin die Nummer, bis sie sicher war, dass Lotte sie korrekt notiert hatte, und legte auf.
Das »lange Schweigen« übrigens schien Lotte überladen mit Fragezeichen, denn um ihr Adressbuch zu holen, in dem Klaus' Nummer stand, hatte die Anwältin nicht den Hörer beiseitegelegt, vielmehr wahrte sie am anderen Ende der Leitung Schweigen, runzelte wahrscheinlich die Stirn und überlegte, ob sie ihr die Nummer geben solle oder nicht. Jedenfalls hörte Lotte sie im Verlauf des »langen Schweigens« atmen, hörte sie förmlich zwischen den beiden Möglichkeiten schwanken. Lotte wählte also die Nummer von Klaus' Handy, aber es war besetzt. Sie wartete zehn Minuten und rief wieder an, und es war immer noch besetzt. Mit wem spricht Klaus zu dieser nachtschlafenden Zeit?, fragte sie sich.
Als sie ihn am nächsten Tag besuchen kam, brachte sie die Sache lieber nicht zur Sprache und fragte nichts. Klaus' Auftreten war übrigens wie immer, distanziert, kühl, so als wäre nicht er es, der im Gefängnis saß.
Trotz allem fühlte sich Lotte während dieses zweiten Besuchs in Mexiko nicht so verloren wie beim ersten Mal. Ab und zu, wenn sie im Gefängnis wartete, unterhielt sie sich mit den Frauen, die ihre Angehörigen besuchten. Sie lernte zu sagen: Hübsches Kind, oder: Niedlicher Knirps, wenn die Frauen einen Jungen oder ein Mädchen im Schlepptau hatten, oder: Braves Mütterchen, oder: Liebes Ömchen, wenn sie die in ihre Tücher gehüllten Mütter oder Großmütter der Gefangenen sah, die mit unerschütterlichen, schicksalsergebenen Mienen in der Schlange darauf warteten, eingelassen zu werden. Am dritten Tag ihres Aufenthalts kaufte auch sie sich ein Tuch, und manchmal, wenn sie hinter Ingrid und der Anwältin herging, konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten, und dann diente ihr das Tuch dazu, das Gesicht zu verhüllen und ein wenig Intimität zu bewahren.
Im Jahr 1997 fuhr sie wieder nach Mexiko, diesmal aber allein, weil Ingrid eine gute Anstellung gefunden hatte und sie nicht begleiten konnte. Lottes Spanisch - sie hatte sich intensiv dahintergeklemmt war jetzt viel besser, und sie konnte bereits mit der Anwältin telefonieren. Die Reise verlief ohne Zwischenfalle, doch kaum in Santa Teresa angekommen, verrieten ihr die Miene von Victoria Santolaya und dann die übermäßig lange Umarmung, in der sie mit ihr verschmolz, dass irgendetwas
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