2666
um sich nach dem Zeitunterschied zu erkundigen. Dann rief sie die Anwältin an und unterhielt sich etwa eine Viertelstunde mit ihr auf Spanisch, wechselte nur ab und zu ins Englische, um einige Ausdrücke zu klären, und machte sich unablässig Notizen in ein Büchlein. Am Ende sagte sie: Wir rufen Sie wieder an, und legte auf.
Lotte saß am Tisch, und als Ingrid das Gespräch beendet hatte, machte sie sich auf das Schlimmste gefasst.
»Klaus sitzt im Gefängnis von Santa Teresa, einer Stadt im Norden Mexikos, an der Grenze zu den USA«, sagte sie, »aber er ist gesund und hat keine äußeren Verletzungen.«
Bevor Lotte fragen konnte, weshalb er im Gefängnis saß, schlug Ingrid vor, einen Tee oder einen Kaffee zu trinken. Lotte kochte zwei Tassen Tee, und während sie in der Küche herumwirtschaftete, beobachtete sie Ingrid, die ihre Notizen durchging.
»Man wirft ihm vor, mehrere Frauen ermordet zu haben«, sagte das Mädchen, nachdem sie zweimal an ihrem Tee genippt hatte.
»So etwas würde Klaus nie tun«, sagte Lotte.
In der folgenden Nacht träumte Lotte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder von ihrem Bruder. Sie sah Archimboldi, wie er in kurzen Hosen und mit Strohhütchen durch die Wüste ging, und um ihn herum war alles Sand, Dünen, so weit das Auge reichte. Sie rief etwas, sagte, geh nicht weiter, dieser Weg führt nirgendwohin, aber Archimboldi entfernte sich immer weiter, als wollte er sich für immer in dieser unbegreiflichen und feindlichen Landschaft verlieren.
»Sie ist unbegreiflich und noch dazu feindlich«, sagte sie zu ihm, und da erst wurde ihr bewusst, dass sie wieder ein kleines Mädchen war, ein kleines Mädchen, das in einem preußischen Dorf zwischen dem Wald und dem Meer lebte. »Nein«, sagte Archimboldi, aber so, als flüstere er es ihr ins Ohr, »diese Landschaft ist vor allem langweilig, langweilig, langweilig ...«
Als sie aufwachte, wusste sie, dass sie unverzüglich nach Mexiko reisen musste. Gegen Mittag erschien Ingrid in der Werkstatt. Lotte sah sie durch die Scheibe ihres Büros. Wie tags zuvor alberte Ingrid mit den Mechanikern herum, bevor sie zu ihr heraufkam. Ihr Lachen, durch die Glasscheibe gedämpft, klang frisch und unbeschwert. Als sie aber vor ihr stand, zeigte sie sich von einer viel ernsthafteren Seite. Bevor sie die Anwältin anriefen, tranken sie Tee und aßen Plätzchen. Lotte hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen, und das Gebäck tat ihr gut. Außerdem war Ingrids Anwesenheit eine Erleichterung: Sie war ein kluge, unprätentiöse junge Frau, die auch ausgelassen sein konnte und ernst wurde, wenn Ernst geboten war.
Am Telefon sollte Ingrid der Anwältin sagen, sie, Lotte, werde persönlich nach Santa Teresa kommen und klären, was zu klären sei. Die Anwältin, die einen verschlafenen Eindruck machte, als hätten sie sie gerade aus dem Bett geholt, gab Ingrid eine Reihe von Adressen, dann war das Gespräch beendet. Am Nachmittag ging Lotte zu ihrem Anwalt und erläuterte ihm die Sachlage. Der Anwalt führte einige Telefongespräche und sagte dann, sie müsse sich in Acht nehmen, mexikanischen Anwälten sei nicht zu trauen.
»Das weiß ich bereits«, sagte Lotte selbstbewusst.
Dann beriet er sie noch über die beste Methode für Überweisungen nach Mexiko. Am Abend rief sie Ingrid zu Hause an und fragte sie, ob sie Lust hätte, sie nach Mexiko zu begleiten.
»Selbstverständlich bezahle ich Sie«, sagte Lotte.
»Als Übersetzerin?«, fragte Ingrid.
»Als Übersetzerin, als Dolmetscherin, als meine Begleitung, als was auch immer«, sagte Lotte mürrisch.
»Einverstanden«, sagte Ingrid.
Vier Tage später saßen sie in einem Flugzeug nach Los Angeles. Dort hatten sie Anschluss an eine Maschine nach Tucson, und von Tucson fuhren sie mit einem Leihwagen nach Santa Teresa. Das Erste, was Klaus zu ihr sagte, als sie ihn besuchen durfte, war, sie sei alt geworden, und Lotte fühlte sich beschämt.
Die Jahre gehen an niemandem spurlos vorüber, hätte sie sagen wollen, aber die Tränen hinderten sie daran. Sie waren zu viert, die Anwältin, Ingrid, sie und Klaus, in einem Raum mit Wänden und Boden aus feuchtfleckigem Beton und einem am Boden festgeschraubten Tisch aus holzimitierendem Kunststoff und zwei ebenfalls am Boden festgeschraubten Holzbänken. Ingrid, die Anwältin und sie saßen auf der einen Bank, Klaus auf der anderen. Er wurde nicht in Handschellen gebracht und zeigte keine Spuren schlechter Behandlung. Lotte bemerkte, dass er
Weitere Kostenlose Bücher