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es nicht zum Besten. Die Ärzte, die sie aufsuchte, konnten nichts finden, aber manchmal fühlte sich Lotte von den einfachsten Dingen überfordert. Bei jedem schlechten Wetter bekam sie eine Erkältung und musste mehrere Tage das Bett hüten, manchmal mit hohem Fieber.
Im Jahr 2000 konnte sie nicht nach Mexiko reisen, telefonierte aber jede Woche mit der Anwältin, die sie mit den jüngsten Neuigkeiten in Bezug auf Klaus versorgte. Wenn sie nicht telefonierten, kommunizierten sie über E-Mail, und Lotte ließ sich sogar ein Faxgerät installieren, damit man ihr neue Dokumente im Fall der ermordeten Frauen zuschicken konnte. In dem Jahr, in dem sie zu Hause blieb, bereitete sie sich akribisch darauf vor, im nächsten Jahr bei bester Gesundheit zu sein und reisen zu können. Sie nahm Vitamine, engagierte einen Physiotherapeuten, suchte einmal wöchentlich einen chinesischen Akupunkteur auf. Sie befolgte einen speziellen Ernährungsplan mit viel frischem Obst und Salat. Sie strich Fleisch von ihrer Speisekarte und ersetzte es durch Fisch.
Im Jahr darauf, 2001, war sie bereit für eine weitere Reise nach Mexiko, obgleich ihre Gesundheit allen Bemühungen zum Trotz nicht mehr die alte war. Gleiches galt, wie man im Folgenden sehen wird, auch für ihr Nervenkostüm.
Während sie am Frankfurter Flughafen auf ihre Maschine nach Los Angeles wartete, betrat sie eine Buchhandlung und kaufte sich ein Buch und zwei Zeitschriften. Lotte war keine leidenschaftliche Leserin, was immer das heißen sollte, und wenn sie hin und wieder Bücher kaufte, dann in der Regel solche, wie sie Schauspieler schreiben, die sich zur Ruhe setzen oder eine längere Schaffenspause einlegen, oder Biographien von berühmten Leuten, oder die Sorte Bücher, die Fernsehmoderatoren schreiben und die scheinbar voller interessanter Anekdoten stecken, in Wirklichkeit aber nicht eine einzige Anekdote enthalten.
Diesmal jedoch kaufte sie, vielleicht aus Versehen oder wegen der Eile, ein Buch mit dem Titel Der König des Waldes von einem gewissen Benno von Archimboldi. Es war ein schmales Bändchen von nicht mehr als hundertfünfzig Seiten, das von einem Einbeinigen und einer Einäugigen und ihren beiden Kindern handelte, einem Jungen, der gern schwamm, und einem Mädchen, das ihrem Bruder bis in die Klippen nachlief. Während das Flugzeug den Atlantik überquerte, stellte Lotte mit Erstaunen fest, dass sie einen Teil ihrer Kindheit las.
Der Stil war eigenartig, die Schreibweise klar, manchmal geradezu transparent, aber die Art, wie sich die Geschichten aneinanderreihten, führte nirgendwohin: Übrig blieben nur die Kinder, ihre Eltern, die Tiere, einige Nachbarn, und am Schluss war eigentlich nur noch die Natur übrig, eine Natur, die sich in einem kochenden Bottich nach und nach auflöste, bis sie schließlich ganz verschwand.
Während die anderen Passagiere schliefen, las Lotte den Roman ein zweites Mal, übersprang die Stellen, die nicht von ihrer Familie, ihrem Haus, ihren Nachbarn oder ihrem Hof handelten, und am Ende bestand für sie kein Zweifel mehr, dass der Autor, dieser Benno von Archimboldi, ihr Bruder war, obwohl noch die Möglichkeit bestand, dass der Autor mit ihrem Bruder gesprochen hatte, eine Möglichkeit, die Lotte sofort verwarf, weil es ihrer Einschätzung nach in dem Buch Dinge gab, die ihr Bruder niemals jemandem erzählt hätte, ohne zu bedenken, dass er sie schreibend allen erzählte.
Auf dem Umschlag fand sich kein Foto des Autors, immerhin aber ein Geburtsdatum, 1920, das Jahr, in dem auch ihr Bruder geboren wurde, nebst einer langen Liste weiterer Titel, alle im selben Verlag erschienen. Außerdem wurde mitgeteilt, dass Archimboldi in rund ein Dutzend Sprachen übersetzt sei und seit einigen Jahren als Anwärter auf den Nobelpreis gehandelt werde. Während sie in Los Angeles auf die Anschlussmaschine nach Tucson wartete, suchte sie nach anderen Büchern von Archimboldi, aber in den Buchläden im Flughafen gab es nur Bücher über Außerirdische und Menschen, die von Außerirdischen entführt worden waren, über Begegnungen der dritten Art und Sichtungen fliegender Untertassen.
In Tucson wurde sie von der Anwältin abgeholt, und auf der Fahrt nach Santa Teresa sprachen sie ausschließlich über den Fall, der sich nach Ansicht der Anwältin seit langem an einem toten Punkt befand, und das sei gut, was Lotte jedoch nicht verstand, denn für sie war ein toter Punkt eher etwas Schlechtes. Dennoch mochte sie ihr nicht widersprechen
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