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und überließ sich stattdessen der Betrachtung der Landschaft. Die Wagenfenster waren heruntergedreht, und die Wüstenluft, eine süßliche, warme Luft, war alles, was Lotte nach dem langen Flug brauchte.
Noch am gleichen Tag fuhr sie ins Gefängnis und freute sich, als ein altes Mütterchen sie erkannte.
»Glücklich die Augen, die Sie sehn, Señora 'aas«, sagte die Alte.
»Ah! Monchita, wie geht es Ihnen?« sagte Lotte und umarmte sie lange.
»Sie sehen ja selbst, meine Blonde, es ist ein Kreuz ohne Ende«, erwiderte die Alte.
»Ein Sohn ist und bleibt ein Sohn«, deklamierte Lotte, und sie umarmten einander erneut.
Klaus kam ihr vor wie immer, distanziert, kühl, ein wenig dünner, aber unverändert kräftig, mit dem gleichen kaum wahrnehmbaren Ausdruck des Widerwillens, der ihm anhaftete, seit er siebzehn war. Sie redeten über belanglose Dinge, über Deutschland (obwohl alles, was mit Deutschland zusammenhing, Klaus nicht im Geringsten zu interessieren schien), über die Reise, die Werkstatt in Paderborn, und als die Anwältin ging, weil sie mit einem Justizbeamten sprechen musste, erzählte Lotte ihm von dem Buch von Archimboldi, das sie während der Reise gelesen hatte. Anfangs wirkte Klaus desinteressiert, aber als Lotte das Buch aus der Tasche zog und die Stellen las, die sie unterstrichen hatte, veränderte sich Klaus' Miene.
»Wenn du willst, lasse ich es dir da«, sagte Latte.
Klaus nickte und wollte das Buch sofort einstecken, aber Lotte ließ es nicht los.
»Ich will mir erst etwas aufschreiben«, sagte sie, zückte ihr Notizbuch und notierte sich die Anschrift des Verlags. Dann reichte sie ihm das Buch.
In der Nacht, als Lotte bei Orangensaft und Keksen in ihrem Hotelzimmer saß und das Nachtprogramm im mexikanischen Fernsehen schaute, führte sie, es war schon früher Morgen, ein Ferngespräch mit dem Verlag Jacob Bubis in Hamburg. Sie bat, mit dem Verleger verbunden zu werden.
»Mit der Verlegerin«, sagte die Sekretärin. »Frau Bubis. Sie ist aber noch nicht im Haus. Versuchen Sie es bitte später noch einmal.«
»In Ordnung«, sagte Latte, »ich rufe später wieder an.« Und nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Sagen Sie ihr, Lotte Haas hat angerufen, die Schwester von Benno von Archimboldi.«
Dann legte sie auf, rief bei der Rezeption an und bat darum, in drei Stunden geweckt zu werden. Ohne sich auszuziehen, schlief sie ein. Sie hörte Geräusche im Flur. Der Fernseher lief noch, jedoch ohne Ton. Sie träumte von einem Friedhof, auf dem sich das Grab eines Riesen befand. Die Steinplatte glitt zur Seite, und der Riese streckte eine Hand heraus, dann noch eine, dann den Kopf, einen erdverkrusteten, von einer langen blonden Mähne umrahmten Kopf. Sie wachte auf, bevor die Rezeption sich meldete. Sie schaltete den Ton des Fernsehers wieder ein und ging eine Weile im Zimmer auf und ab, wobei sie aus dem Augenwinkel eine Sendung über Amateursänger verfolgte.
Als das Telefon klingelte, dankte sie dem Mann an der Rezeption und rief erneut in Hamburg an. Dieselbe Sekretärin wie vorhin nahm ab und sagte, die Verlegerin sei inzwischen im Haus. Lotte wartete ein paar Sekunden und hörte dann die warme, wohlklingende Stimme einer Frau, die, wie ihr schien, eine höhere Ausbildung genossen haben musste.
»Sind Sie die Verlagsleiterin?«, fragte Lotte. »Ich bin die Schwester von Benno von Archimboldi, also von Hans Reiter«, erklärte sie und verstummte, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte.
»Geht es Ihnen gut? Kann ich etwas für Sie tun? Meine Sekretärin sagte mir, Sie rufen aus Mexiko an.«
»Ja, ich rufe aus Mexiko an«, sagte Lotte, den Tränen nahe.
»Leben Sie in Mexiko? Von wo in Mexiko rufen Sie an?«
»Ich lebe in Deutschland, in Paderborn, ich besitze dort eine Autowerkstatt und einige Häuser.«
»Nein, wie schön!«, sagte die Verlegerin.
Da erst bemerkte Lotte, ohne genau zu wissen, woran, vielleicht an gewissen Ausrufen seitens der Verlegerin oder an ihrer Art, Fragen zu stellen, dass sie es mit einer Frau zu tun hatte, die älter war als sie selbst, also mit einer sehr alten Frau.
Dann brachen bei Lotte alle Dämme, sie sagte, sie habe ihren Bruder schon ewig nicht mehr gesehen, ihr Sohn sitze in Mexiko im Gefängnis, ihr Mann sei gestorben, sie habe nicht wieder geheiratet, Notwendigkeit und Verzweiflung hätten sie veranlasst, Spanisch zu lernen, und noch immer verhasple sie sich in dieser Sprache, auch ihre Mutter sei gestorben, und wahrscheinlich
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