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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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wurde er auch nur bei schwerer See seekrank. Jedenfalls war die Reise von schwerer See und Seekrankheit überschattet. Einmal merkte Schwob, der in seiner Koje lag und den Tod nahe fühlte, wie sich jemand neben ihn legte. Als er sich umdrehte, um zu sehen, wer der Eindringling war, entdeckte er seinen asiatischen Diener, dessen Gesicht grün war wie Huflattich. Vielleicht wurde ihm erst in diesem Moment klar, worauf er sich eingelassen hatte. Als er nach vielen Strapazen in Samoa ankam, ging er nicht zum Grab von Stevenson. Zum einen war er zu krank, zum anderen: Warum sollte er das Grab von jemandem besuchen, der gar nicht tot war? Stevenson, und diese schlichte Offenbarung verdankte er der Reise, lebte in ihm weiter.
    Morini, der Bewunderung (eigentlich eher Zärtlichkeit als Bewunderung) für Schwob hegte, dachte zunächst, seine Reise nach Sonora könne im Kleinen eine Art Hommage an den französischen Schriftsteller sowie eine an den englischen Schriftsteller sein, dessen Grab der französische Schriftsteller hatte besuchen wollen, aber als er nach Turin zurückkehrte, musste er einsehen, dass er nicht reisen konnte. Er rief also seine Freunde an und log, der Arzt habe ihm eine derartige Anstrengung kategorisch verboten. Pelletier und Espinoza akzeptierten seine Erklärung und versprachen, ihn regelmäßig anzurufen und über die (diesmal definitive) Suche, die sie unternehmen wollten, auf dem Laufenden zu halten.
    Bei Norton war es anders. Morini wiederholte, er werde nicht reisen. Der Arzt habe es ihm verboten. Er wolle ihnen aber täglich schreiben. Er lachte sogar und erlaubte sich einen dummen Witz, den Norton nicht verstand. Einen italienischen Witz. Ein Italiener, ein Franzose und ein Engländer in einem Flugzeug, in dem es nur zwei Fallschirme gibt. Norton glaubte, es handele sich um einen politischen Witz. In Wirklichkeit war es ein Kinderwitz, wenngleich der Italiener in dem Flugzeug (das nacheinander beide Motoren verlor und schließlich abstürzte), wie Morini ihn imitierte, Berlusconi ähnelte. Eigentlich machte Norton kaum den Mund auf. Sie sagte aha, aha, aha. Und dann sagte sie gute Nacht, Piero, in einem sehr sanften Englisch oder in einem Englisch, das Morini unerträglich sanft vorkam, und legte auf.
    In gewisser Weise fühlte Norton sich durch Morinis Absage beleidigt. Sie riefen einander nicht mehr an. Morini hätte es tun können, doch hatte er, auf seine Weise und noch bevor seine Freunde ihre Suche nach Archimboldi unternahmen, schon wie Schwob mit Samoa eine andere Reise begonnen, eine, die nicht um das Grab eines Heros kreiste, sondern um eine Resignation, eine gewissermaßen neue Erfahrung, da diese Resignation keine Resignation im üblichen Verstande war, nicht einmal bloße Geduld oder Ergebenheit, sondern eher ein Zustand der Sanftmut, eine köstliche, unbegreifliche Demut, die seine Tränen fließen ließ, ohne dass er es selbst merkte, und in der sein Bild, das Bild, das Morini von Morini hatte, sich allmählich und unaufhaltsam auflöste, wie ein Fluss, der aufhört, Fluss zu sein, oder wie ein Baum, der am Horizont verbrennt, ohne zu wissen, dass er verbrennt.
    Pelletier, Espinoza und Norton flogen von Paris nach DF, wo El Cerdo sie in Empfang nahm. Die Nacht verbrachten sie in einem dortigen Hotel, und am nächsten Morgen flogen sie weiter nach Hermosillo. El Cerdo, der von der ganzen Geschichte nicht viel verstand, war hocherfreut, so namhafte europäische Gelehrte begrüßen zu dürfen, obwohl sie zu seinem Ärger nicht bereit waren, in Bellas Artes oder der UNAM oder dem Colegio de México einen Vortrag zu halten.
    An dem Abend, den sie in DF verbrachten, fuhren sie mit El Cerdo zu dem Hotel, in dem Archimboldi übernachtet hatte. Der Empfangschef machte keine Einwände, sie einen Blick in den Computer werfen zu lassen. Mit der Maus ging El Cerdo die Namen durch, die der Bildschirm für den Tag ausspuckte, an dem er Archimboldi kennengelernt hatte. Pelletier bemerkte, dass er schmutzige Fingernägel hatte, und begriff den Grund für seinen Spitznamen.
    »Hier«, sagte El Cerdo, »der ist es.«
    Pelletier und Espinoza suchten nach dem Namen, auf den El Cerdo zeigte. Hans Reiter. Eine Nacht. Barzahlung. Er hatte weder eine Kreditkarte benutzt noch die Minibar angerührt. Anschließend gingen sie in ihr eigenes Hotel, obwohl El Cerdo fragte, ob sie nicht Interesse hätten, irgendwelche Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Nein, sagten Espinoza und Pelletier, haben wir

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