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nicht.
Derweil saß Norton in ihrem Hotelzimmer, und obwohl sie nicht müde war, hatte sie das Licht gelöscht und nur den Fernseher ganz leise laufenlassen. Durch das offene Fenster drang fernes Brausen wie von vielen Stimmen an ihr Ohr, als würden viele Kilometer weit weg in einem Gebiet am Rande der Stadt Menschen evakuiert. Sie dachte, es sei der Fernseher und schaltete ihn aus, aber das Geräusch blieb. Sie lehnte sich aus dem Fenster und schaute auf die Stadt. Ein Meer aus flackernden Lichtern, das sich nach Süden erstreckte. Ihr halber Körper hing aus dem Fenster, aber sie konnte kein Brausen hören. Die Luft war kühl und tat ihr gut.
Am Eingang des Hotels diskutierten zwei Portiers mit einem Hotelgast und einem Taxifahrer. Der Gast war betrunken. Einer der Portiers hatte ihn untergefasst, und der andere hörte sich an, was der Taxifahrer zu sagen hatte, der sich, seinem Gezeter nach zu urteilen, immer mehr aufregte. Kurz darauf hielt ein Wagen vor dem Hotel, und sie sah Espinoza und Pelletier aussteigen, gefolgt von dem Mexikaner. Von hier oben war sie sich nicht ganz sicher, ob es tatsächlich ihre Freunde waren. Wenn sie es waren, dann wirkten sie jedenfalls verändert, gingen anders, viel männlicher, sofern das möglich war, obwohl Norton das Wort Männlichkeit, vor allem, wenn es sich auf die Art des Gehens bezog, grotesk fand, eine Eselei ohne Sinn und Verstand. Der Mexikaner gab einem der Portiers die Wagenschlüssel, und dann betraten die drei das Hotel. Der Portier mit El Cerdos Autoschlüssel stieg in dessen Wagen, woraufhin der Taxifahrer sein Gezeter an den Portier richtete, der den Betrunkenen stützte. Norton kam es so vor, als verlangte der Taxifahrer mehr Geld und als wollte der betrunkene Hotelgast nicht bezahlen. Von ihrem Fenster aus glaubte Norton in dem Betrunkenen einen Amerikaner zu erkennen. Er trug ein weißes Hemd, das über seine helle, cappuccino- oder Milchkaffee braune Leinenhose hing. Sein Alter konnte sie schwer schätzen. Als der andere Portier zurückkam, trat der Taxifahrer zwei Schritte zurück und sagte etwas.
Seine Haltung, dachte Norton, wirkte bedrohlich. Daraufhin machte einer der Portiers, der, welcher den Betrunkenen am Arm hatte, einen Satz und packte ihn am Kragen. Der Taxifahrer, der mit dieser Reaktion nicht gerechnet hatte, wich zwar zurück, konnte aber den Portier nicht mehr abschütteln. Am Himmel, der womöglich voller schwarzer Smogwolken hing, tauchten die Lichter eines Flugzeugs auf. Norton schaute auf, überrascht, denn nun begann die gesamte Luft zu brausen, als würden Millionen Bienen das Hotel umschwirren. Für einen Moment schoss ihr der Gedanke an einen Selbstmordattentäter oder Flugzeugabsturz durch den Kopf. Vor dem Hoteleingang schlugen die Portiers auf den Taxifahrer ein, der zu Boden gegangen war. Sie traten nicht pausenlos auf ihn ein. Sagen wir, sie traten vier- oder fünfmal zu, hielten inne und gaben ihm Gelegenheit, zu sprechen oder abzuhauen, aber der Taxifahrer, zusammengekrümmt, bewegte den Mund und beschimpfte sie, woraufhin ihm die Portiers noch eine Tracht Prügel verpassten.
Das Flugzeug kam in der Dunkelheit noch etwas tiefer, und Norton glaubte durch die Fenster die gespannten Gesichter der Passagiere zu sehen. Dann flog die Maschine eine Kurve, begann wieder zu steigen und durchstieß kurz darauf erneut den Bauch der Wolken. Die rot und blau blinkenden Hecklichter waren das Letzte, was sie von ihr sah, bevor sie verschwand. Als sie nach unten schaute, war einer der Männer vom Empfang herausgekommen und lud sich den Betrunkenen, der kaum gehen konnte, wie einen Verletzten auf die Schulter, während die beiden Portiers den Taxifahrer nicht zu seinem Taxi, sondern in Richtung Tiefgarage schleiften.
Ihr erster Impuls war, hinunter in die Bar zu gehen, wo sie Pelletier und Espinoza im Gespräch mit dem Mexikaner treffen würde, aber dann entschied sie sich, das Fenster zu schließen und sich ins Bett zu legen. Das Brausen hielt an, und Norton dachte, dass es wohl doch von der Klimaanlage herrührte.
»Es herrscht eine Art Krieg zwischen Taxifahrern und Portiers«, sagte El Cerdo. »Ein heimlicher Krieg mit seinen Höhen und Tiefen, heißen Phasen und Feuerpausen.«
»Und was wird jetzt passieren?«, fragte Espinoza.
Sie saßen in der Hotelbar, an einer der Fensterfronten, die zur Straße gingen. Die Luft draußen war von flüssiger Konsistenz. Schwarzes Wasser, Pechkohle, der man gern mit der Hand zärtlich über den
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