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einen Achtzigjährigen haben, der keine Familie besaß, keine Nachkommen und kein bekanntes Gesicht? Frau Bubis sagte, er wäre sicher hocherfreut. Wahrscheinlich hatte sie mit niemandem Rücksprache gehalten, dachte nur an die Verkaufszahlen. Aber machte sich die Baroness Gedanken um den Verkauf der Bücher, der Bücher, die sich in den Lagern des Verlags in Hamburg türmten? Nein, mit Sicherheit nicht, sagte Dieter Hellfeld. Die Baroness war um die neunzig, und der Zustand des Lagers kümmerte sie wenig. Sie reiste viel, Mailand, Paris, Frankfurt. Hin und wieder traf man sie in Frankfurt am Stand von Bubis im Gespräch mit Frau Sellerio. Oder in der deutschen Botschaft in Moskau, mit Chanel-Kostüm und zwei russischen Dichtern im Gefolge, dozierend über Bulgakow und über die (unvergleichliche!) Schönheit der russischen Flüsse im Herbst vor dem ersten Frost. Manchmal, sagte Pelletier, hat es den Anschein, als habe Frau Bubis die Existenz Archimboldis schon vergessen. In Mexiko ist so etwas ganz normal, sagte der junge Alatorre. Möglich war es jedenfalls, so Schwarz, schließlich stand er auf der Favoritenliste. Und vielleicht reizte die schwedischen Akademiemitglieder die Aussicht auf ein wenig Abwechslung. Ein Veteran, ein Deserteur des Zweiten Weltkriegs, bis heute auf der Flucht, eine Mahnung für Europa in aufgewühlten Zeiten. Ein linker Schriftsteller, den sogar die Situationisten respektierten. Jemand, der nicht vorgab, das Unversöhnliche zu versöhnen, wie es heute Mode ist. Stell dir vor, sagte Pelletier, Archimboldi kriegt den Nobelpreis, und genau in dem Moment tauchen wir auf, mit Archimboldi an der Hand.
Was Archimboldi in Mexiko suchte, war ihnen schleierhaft. Warum reist jemand mit über achtzig in ein Land, in dem er noch nie war? Plötzliches Interesse? Die Notwendigkeit, die Schauplätze eines aktuellen Buchprojekts vor Ort in Augenschein zu nehmen? Das hielten sie für unwahrscheinlich, auch deswegen, weil die vier überzeugt waren, von Archimboldi werde es keine weiteren Bücher geben.
Stillschweigend tendierten sie zu der einfachsten und zugleich irrwitzigsten Antwort: Archimboldi sei als Tourist nach Mexiko gefahren, wie so viele deutsche und europäische Rentner. Diese Erklärung ließ sich nicht aufrechterhalten. Sie stellten sich einen alten, preußischen Misanthropen vor, der eines Morgens aufwachte und den Verstand verloren hatte. Sie zogen die Möglichkeit einer Altersdemenz in Betracht. Sie verwarfen sämtliche Hypothesen und hielten sich an El Cerdos Worte. Was, wenn Archimboldi auf der Flucht war? Wenn Archimboldi plötzlich wieder einen Grund gefunden hatte, zu fliehen?
Anfangs hatte Norton von allen die größten Bedenken, die Suche nach ihm aufzunehmen. Das Bild, wie sie mit Archimboldi an der Hand nach Europa zurückkehrten, kam ihr vor wie das einer Gruppe von Entführern. Natürlich dachte niemand daran, Archimboldi zu entführen. Nicht einmal mit Fragen bombardieren wollten sie ihn. Espinoza reichte es, ihn zu sehen. Pelletier reichte es, ihn zu fragen, wer die Person war, aus deren Haut man die Ledermaske in seinem gleichnamigen Roman hergestellt hatte. Morini reichte es, sich die Fotos anzuschauen, die sie von ihm in Sonora machen würden.
Alatorre, den niemand nach seiner Meinung gefragt hatte, reichte es, mit Pelletier, Espinoza und Norton eine Brieffreundschaft anzuzetteln und sie vielleicht ab und zu, wenn es sie nicht störte, in ihrer jeweiligen Heimat zu besuchen. Nur Norton hatte Bedenken.
Entschloss sich aber schließlich doch zu reisen. Ich glaube, Archimboldi lebt in Griechenland, sagte Dieter Hellfeld. Entweder das, oder er ist tot. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Dass der Autor, den wir als Archimboldi kennen, in Wirklichkeit Frau Bubis ist.
»Ja, ja«, sagten unsere vier Freunde, »Frau Bubis.«
In letzter Minute entschied sich Morini, nicht zu reisen. Seine angegriffene Gesundheit, sagte er, erlaube es ihm nicht. Marcel Schwob, der eine ähnlich schwache Gesundheit besaß, hatte sich 1901 unter den widrigsten Umständen auf die Reise gemacht, um das Grab von Stevenson auf einer Pazifikinsel zu besuchen. Schwobs Überfahrt dauerte viele, viele Tage, erst auf der Ville de La Ciotat, dann auf der Polynésienne und schließlich auf der Manapouri. Im Januar 1902 erkrankte er an Lungenentzündung und wäre daran fast gestorben. Schwob reiste mit seinem Diener, einem Chinesen namens Ting, der bei erster Gelegenheit seekrank wurde. Oder vielleicht
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