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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Pelletier.
    Genau wie ich, genau wie ich, dachte Espinoza.
    Es handelte sich eigentlich nicht um zwei, sondern um einen einzigen Brief, wenngleich mit Varianten, mit abrupten Wendungen ins Persönliche, die alle über demselben Abgrund kreisten. Santa Teresa, diese grauenvolle Stadt, schrieb Norton, habe sie zum Nachdenken gebracht. Zu ernsthaftem Nachdenken, das erste Mal seit Jahren. Das heißt: Sie hatte angefangen, über praktische, wirkliche, greifbare Dinge nachzudenken und sich zu erinnern. Sie dachte über ihre Familie nach, über die Freunde, über ihre Arbeit, und fast gleichzeitig fielen ihr Szenen aus Familie und Beruf wieder ein, Szenen, wo Freunde die Gläser erhoben und auf etwas anstießen, vielleicht auf sie, vielleicht auf jemanden, den sie vergessen hatte. »Dieses Land ist unglaublich« (hier folgte eine Abschweifung, aber nur in dem Brief an Espinoza, als könnte Pelletier das nicht verstehen oder als wüsste sie im Vorhinein, dass beide ihre Briefe miteinander vergleichen würden), »einer der Oberbonzen der Kultur, jemand, den man sich mit besten Manieren denkt, ein Schriftsteller, der in höchste Regierungskreise aufgestiegen ist, wird, als sei es das Natürlichste von der Welt, als El Cerdo, das Schwein, tituliert«, schrieb sie und zog eine Verbindung zwischen dem Spitznamen, der Grausamkeit des Spitznamens, der Ergebung in den Spitznamen, zu den Verbrechen, die sich seit geraumer Zeit in Santa Teresa abspielten.
    »In meiner Kindheit gab es einen Jungen, den ich sehr mochte. Ich weiß nicht warum, aber ich mochte ihn. Ich war acht, und er war so alt wie ich. Er hieß James Crawford. Ich glaube, er war ein sehr ängstliches Kind. Er sprach nur mit den anderen Jungen und mied den Kontakt mit den Mädchen. Er hatte sehr dunkles Haar und braune Augen. Er trug immer kurze Hosen, auch als die anderen Jungen anfingen, lange Hosen zu tragen. Als ich ihn das erste Mal ansprach, das ist mir vor kurzem wieder eingefallen, nannte ich ihn nicht James, sondern Jimmy. Niemand nannte ihn so. Ich tat es. Wir waren beide acht Jahre alt. Sein Gesicht war sehr ernst. Warum hatte ich ihn angesprochen? Ich glaube, er hatte etwas auf seinem Pult vergessen, vielleicht einen Radiergummi oder einen Bleistift, das weiß ich nicht mehr, und ich sagte zu ihm: Jimmy, du hast deinen Radiergummi vergessen. Ich weiß noch genau, dass ich dabei lächelte. Ich weiß noch genau, warum ich ihn Jimmy nannte und nicht James oder Jim. Aus Zärtlichkeit. Aus Freude. Weil ich Jimmy mochte und ihn sehr schön fand.«
    Als Espinoza am nächsten Tag in aller Frühe zum Markt fuhr, wo die Händler und Kunsthandwerker gerade erst ihre Stände aufbauten und die gepflasterte Straße noch sauber war, klopfte sein Herz stärker als gewöhnlich. Rebeca breitete auf einem Klapptisch ihre Teppiche aus und lächelte, als sie ihn kommen sah. Einige Händler tranken Kaffee oder Cola, standen herum und unterhielten sich von Stand zu Stand. Hinter den Ständen auf dem Gehweg, unter den alten Arkaden und den Markisen einiger der alteingesessenen Läden drängten sich Grüppchen von Männern, die über große Posten Töpferware diskutierten, deren Verkauf in Tucson oder Phoenix eine todsichere Sache sei. Espinoza begrüßte Rebeca und half ihr, die letzten Teppiche auszurollen. Dann fragte er sie, ob sie nicht Lust habe, mit ihm frühstücken zu gehen, und das Mädchen sagte, das ginge nicht und sie habe schon zu Hause gefrühstückt. Ohne sich geschlagen zu geben, fragte Espinoza, wo ihr Bruder sei.
    »In der Schule«, sagte Rebeca.
    »Und wer hilft dir beim Tragen deiner Waren?«
    »Meine Mama«, sagte Rebeca.
    Espinoza schwieg einen Moment, sah zu Boden und war unschlüssig, ob er noch einen Teppich kaufen oder lieber wortlos gehen sollte.
    »Ich lade dich zum Essen ein«, sagte er schließlich.
    »Na gut«, sagte das Mädchen.
    Bei seiner Rückkehr ins Hotel fand Espinoza Pelletier, der wieder Archimboldi las. Aus der Entfernung strahlte Pelletiers Gesicht - und in Wirklichkeit nicht nur sein Gesicht, sondern sein ganzer Körper eine innere Ruhe aus, die ihm beneidenswert erschien. Beim Näherkommen sah er, dass er nicht Der Heilige Thomas, sondern Die Blinde las, und fragte ihn, ob er die Geduld besessen habe, das andere Buch von Anfang bis Ende durchzulesen. Pelletier schaute auf und antwortete nicht. Stattdessen sagte er, es sei erstaunlich oder erstaune ihn immer wieder, wie Archimboldi sich Themen wie Schmerz und Scham

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