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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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nähere.
    »Zartfühlend«, sagte Espinoza.
    »Das ist es«, sagte Pelletier, »zartfühlend.«
    »In Santa Teresa, in dieser grauenvollen Stadt«, hieß es in Nortons Brief, »dachte ich an Jimmy, vor allem aber an mich, an das Mädchen, das ich mit acht Jahren war, und anfangs überschlugen sich die Gedanken, überschlugen sich die Bilder, schien sich in meinem Kopf ein Erdbeben abzuspielen, es war mir nicht möglich, irgendeine Erinnerung klar und deutlich festzuhalten, als es mir aber am Ende doch gelang, war es noch schlimmer, ich sah mich, wie ich ›Jimmy‹ sagte, sah mein Lächeln, das ernste Gesicht von Jimmy Crawford, die Gruppe der Jungen, seine Schultern, die plötzliche Welle, deren Auffangbecken der Hof war, sah meine Lippen, die den Jungen auf etwas Vergessenes aufmerksam machten, sah den Radiergummi, oder vielleicht war es ein Bleistift, sah mit meinen Augen von heute die Augen, die ich damals hatte, und hörte noch einmal meine Worte, den Klang meiner Stimme, die Artigkeit eines achtjährigen Mädchens, das einen achtjährigen Jungen anredet, um ihm zu sagen, er solle seinen Radiergummi nicht vergessen, und es nicht fertigbringt, ihn bei seinem Namen zu nennen, James oder Crawford, wie es in der Schule üblich ist, und bewusst oder unbewusst lieber den Diminutiv Jimmy benutzt, der Zärtlichkeit ausdrückt, eine verbale Zärtlichkeit, eine persönliche Zärtlichkeit, da in diesem Augenblick, der eine ganze Welt ist, nur sie ihn so nennt und sie gewissermaßen zu einer Verkleidung greift, um die Zärtlichkeit oder die in der Geste des Erinnerns verborgene Aufmerksamkeit zu kaschieren, vergiss nicht deinen Radiergummi - oder deinen Bleistift -, und was im Grunde nichts anderes war als der wortarme oder wortreiche Ausdruck des Glücks.«
    Sie aßen in einem billigen Restaurant unweit des Marktes, während Rebecas kleiner Bruder den Karren bewachte, in dem sie jeden Morgen die Teppiche und den Klapptisch transportierte. Espinoza fragte Rebeca, ob es nicht möglich wäre, den Karren unbeaufsichtigt stehenzulassen und den Jungen zum Essen einzuladen, aber Rebeca sagte, er solle sich darüber keine Gedanken machen. Wenn der Karren unbeaufsichtigt bliebe, müsse man damit rechnen, dass ihn jemand klaut. Durch das Restaurantfenster konnte Espinoza den Jungen sehen, der wie ein Vogel oben auf dem Teppichberg hockte und zum Horizont spähte.
    »Ich werde ihm etwas mitbringen«, sagte er, »was mag dein Bruder?«
    »Eis«, sagte Rebeca, »aber hier haben sie kein Eis.«
    Einen Moment lang spielte Espinoza mit dem Gedanken, loszugehen und anderswo ein Eis aufzutreiben, verwarf ihn aber aus Angst, das Mädchen könnte fort sein, wenn er zurückkam. Sie fragte ihn, wie Spanien sei.
    »Verschieden«, sagte Espinoza, während er an das Eis dachte. »Verschieden von Mexiko?«, fragte sie.
    »Nein«, sagte Espinoza, »in sich verschieden, vielfältig.«
    Plötzlich kam Espinoza auf die Idee, dem Jungen ein Sandwich mitzubringen.
    »Man nennt sie hier Kuchen«, sagte Rebeca, »mein Bruder mag die mit Schinken.«
    Sie gleicht einer Prinzessin oder einer Botschafterin, dachte Espinoza. Er fragte die Kellnerin, ob sie einen Schinkenkuchen und einen Fruchtsaft bringen könne. Die Kellnerin fragte zurück, wie er den Kuchen haben wolle.
    »Sag, du willst ihn komplett«, sagte Rebeca. »Komplett«, sagte Espinoza.
    Später ging er mit dem Kuchen und dem Getränk hinaus und hielt sie dem Jungen hin, der immer noch stolz hoch oben auf dem Karren saß. Der Junge schüttelte erst den Kopf und sagte, er habe keinen Hunger. Espinoza sah, dass drei etwas ältere Jungen an der Ecke sie beobachteten und sich das Lachen verkniffen.
    »Wenn du keinen Hunger hast, nimm nur den Saft und heb den Kuchen auf«, sagte er, »oder gib ihn den Hunden.«
    Als er wieder neben Rebeca Platz nahm, fühlte er sich gut. Er hätte Bäume ausreißen können.
    »So geht das nicht«, sagte er, »das ist nicht gut, das nächste Mal essen wir zu dritt.«
    Rebeca sah ihm in die Augen, die Gabel in der Luft, zeigte den Anflug eines Lächelns und führte das Essen zum Mund.
    Im Hotel lag Pelletier mit einem Buch in einem Liegestuhl am Schwimmbecken, und noch bevor Espinoza den Umschlag sah, wusste er, dass er weder Der Heilige Thomas noch Die Blinde, sondern ein anderes Buch von Archimboldi las. Als er neben ihm Platz nahm, konnte er feststellen, dass es sich um den Roman Lethe handelte, der ihn nicht so begeistert hatte wie die anderen Bücher des Deutschen,

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