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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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einen Hof mit schattigen Bäumen und einer kleinen Hahnenkampfarena. Der Junge sagte, sein Vater habe ihn einmal hierher mitgenommen. Sie sprachen über Politik, und Espinoza übersetzte für Pelletier, was die drei sagten. Keiner von ihnen war älter als zwanzig, sie wirkten jung, aufgeweckt und wissbegierig. Amalfitano dagegen kam ihnen müder und elender vor denn je. Leise fragte Pelletier ihn, ob ihm etwas fehle. Amalfitano schüttelte den Kopf und sagte nein, doch auf der Rückfahrt ins Hotel waren sich die Kritiker einig, dass das Benehmen ihres Freundes, der eine Zigarette nach der anderen rauchte, der unablässig trank und außerdem den ganzen Abend kaum den Mund aufmachte, entweder auf eine beginnende Depression oder auf einen Zustand äußerster Nervosität hindeutete.
    Als Espinoza am nächsten Tag herunterkam, fand er Pelletier in Bermudashorts und Ledersandalen auf der Hotelterrasse mit einem Wörterbuch Spanisch-Französisch, das er sich wahrscheinlich an diesem Morgen besorgt hatte und mit dessen Hilfe er die Tageszeitungen von Santa Teresa studierte.
    »Fahren wir in die Innenstadt frühstücken?«, fragte Espinoza.
    »Nein«, sagte Pelletier, »ich habe genug von Alkohol und einem Essen, das mir den Magen ruiniert. Ich will herausfinden, was in dieser Stadt vor sich geht.«
    Da erinnerte sich Espinoza, dass einer der Jungs ihnen vergangene Nacht die Sache mit den ermordeten Frauen erzählt hatte. Er wusste nur noch, dass einer von ihnen gesagt hatte, es seien über zweihundert, und dass er das zwei- oder dreimal wiederholen musste, weil weder er noch Pelletier ihren Ohren trauen wollten. Seinen Ohren nicht trauen, dachte Espinoza, ist allerdings eine Form von Übertreibung. Man sieht etwas Schönes und will seinen Augen nicht trauen. Man erzählt dir etwas über … über die Naturschönheiten von Island … wie Leute in Thermalquellen baden, zwischen Geysiren, das hast du tatsächlich schon auf Fotos gesehen, trotzdem sagst du, das sei ja unglaublich ... Obwohl du es doch offensichtlich glaubst ... Übertreiben ist eine Form von höflicher Bewunderung ... Du gibst das Stichwort, damit dein Gesprächspartner sagt: Es ist die Wahrheit ... Und dann sagst du: Ist ja unglaublich. Zuerst kannst du es nicht glauben, und dann erscheint es dir unglaublich.
    Das war es wahrscheinlich, was er und Pelletier in der vergangenen Nacht gesagt hatten, als der Junge, gesund und stark und rein, ihnen versicherte, mehr als zweihundert Frauen seien umgekommen. Und nicht innerhalb kurzer Zeit, dachte Espinoza. Von 1993 oder 1994 bis heute ... Womöglich liegt die Zahl der Ermordeten sogar noch höher. Vielleicht zweihundertfünfzig oder dreihundert. Das werden wir nie erfahren, hatte der Junge auf Französisch gesagt, der Junge, der ein von Pelletier übersetztes Buch von Archimboldi dank der guten Dienste einer Internet-Buchhandlung bekommen und gelesen hatte. Er sprach kein fehlerfreies Französisch, dachte Espinoza. Aber man kann eine Sprache schlecht oder gar nicht sprechen und trotzdem imstande sein, sie zu lesen. Viele tote Frauen jedenfalls.
    »Und die Schuldigen?«, fragte Pelletier.
    »Seit längerem sitzen Leute in Haft, aber noch immer sterben Frauen«, sagte einer der drei.
    Amalfitano, erinnerte sich Espinoza, sagte kein Wort, war wie weggetreten, wahrscheinlich sturzbetrunken. An einem Nachbartisch saßen drei Typen, die ab und zu herüberschauten, als interessierten sie sich brennend für das, worüber sie sprachen. Woran erinnere ich mich noch? überlegte Espinoza. Jemand, einer von den Studenten, sprach von dem Virus der Mörder. Jemand sagte copycat. Jemand erwähnte den Namen Albert Kessler. Irgendwann stand er auf und ging aufs Klo, um sich zu übergeben. Während er das tat, hörte er, wie draußen jemand, der sich wahrscheinlich Hände und Gesicht wusch oder sich vorm Spiegel kämmte, zu ihm sagte:
    »Kotz dich ruhig aus, Kumpel.«
    Diese Stimme hat mich beruhigt, dachte Espinoza, was aber bedeutet, dass ich in dem Moment äußerst unruhig gewesen sein muss, warum nur? Als er das Klo verließ, war keiner mehr da, man hörte nur gedämpfte Musikgeräusche aus der Bar und ein tieferes, konvulsivisches Geräusch, das die Rohrleitung von sich gab. Wer hat uns ins Hotel gefahren? überlegte er.
    »Wer ist zurückgefahren?«, fragte er Pelletier.
    »Du«, sagte Pelletier.
    An diesem Tag ließ Espinoza den zeitungslesenden Pelletier im Hotel zurück und fuhr allein los. Obwohl es fürs Frühstück etwas

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