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obwohl Pelletiers Miene nach zu urteilen die neuerliche Lektüre lohnend und sehr vergnüglich war. Während Espinoza sich im Nachbarliegestuhl ausstreckte, fragte er, was er den Tag über gemacht habe.
»Gelesen«, antwortete Pelletier und gab die Frage zurück.
»Herumgefahren«, sagte Espinoza.
Als sie im Hotelrestaurant zusammen zu Abend aßen, erzählte Espinoza, er habe ein paar Andenken gekauft, auch ihm habe er etwas mitgebracht. Die Nachricht freute Pelletier, und er fragte, was er ihm denn mitgebracht habe.
»Einen indianischen Teppich«, sagte Espinoza.
»Als ich nach anstrengender Reise in London ankam«, schrieb Norton in ihrem Brief, »musste ich an Jimmy Crawford denken, oder vielleicht musste ich an ihn denken, während ich auf den Flug von New York nach London wartete, jedenfalls waren Jimmy Crawford und meine achtjährige Stimme, die ihn Jimmy nannte, schon bei mir, als ich meine Wohnung aufschloss, Licht machte und die Koffer achtlos im Flur stehenließ. Ich ging in die Küche und kochte mir einen Tee. Dann ging ich duschen und anschließend ins Bett. Weil ich voraussah, dass ich nicht würde einschlafen können, nahm ich ein Schlafmittel. Ich erinnere mich, dass ich anfing, in einer Zeitschrift zu blättern, erinnere mich, dass ich an Euch dachte, wie Ihr durch diese grauenvolle Stadt fahrt, erinnere mich, dass mir das Hotel durch den Kopf ging. In meinem Zimmer gab es zwei eigenartige Spiegel, die mir in den letzten Tagen dort Angst machten. Als ich merkte, dass ich einschlief, hatte ich gerade noch so viel Kraft, den Arm auszustrecken und das Licht auszuknipsen.
Ich hatte keinerlei Träume. Beim Aufwachen wusste ich nicht, wo ich war, aber das dauerte nur ein paar Sekunden, denn ich erkannte schnell die typischen Geräusche meiner Straße. Alles ist vorbei, dachte ich. Ich fühle mich ausgeschlafen, ich bin zu Hause, ich habe viel zu tun. Als ich mich jedoch im Bett aufsetzte, fing ich bloß an, wie verrückt zu heulen, ohne erkennbaren Grund. Das ging so den ganzen Tag. Zeitweilig wünschte ich, ich hätte Santa Teresa nicht verlassen, wäre bis zum Schluss mit Euch zusammengeblieben. Mehr als einmal spürte ich die Versuchung, zum Flughafen zu fahren und die erstbeste Maschine nach Mexiko zu nehmen. Diesen Versuchungen folgten andere, sehr viel destruktivere: In meiner Wohnung Feuer zu legen, mir die Pulsadern aufzuschneiden, die Universität nie wieder zu betreten und fortan ein Obdachlosenleben zu führen.
Aber wie ich aus einer Reportage in einer Zeitung weiß, an deren Namen ich mich nicht erinnere, werden zumindest in England Obdachlose häufig Opfer von Gewalt. In England kommt es vor, dass obdachlose Frauen verprügelt oder von einer Horde Männer vergewaltigt werden, und nicht selten findet man sie tot vor den Eingängen der Krankenhäuser. Und die Täter sind nicht, wie ich mit achtzehn gedacht hätte, Polizisten oder Banden rechtsradikaler Jugendlicher, sondern andere Obdachlose, wodurch die Situation einen wenn möglich noch bittereren Beigeschmack bekommt. Durcheinander, wie ich war, lief ich durch die Stadt, in der Hoffnung, mich etwas zu fangen und um vielleicht eine Freundin anzurufen und mit ihr essen zu gehen. Plötzlich, ich weiß nicht wie, stand ich vor einer Galerie, in der eine Retrospektive von Edwin Johns gezeigt wurde, von dem Künstler, der sich seine rechte Hand abgeschnitten und als Selbstporträt ausgestellt hat.«
Bei seinem nächsten Besuch erreichte Espinoza, dass Rebeca ihm erlaubte, sie nach Hause zu begleiten. Gegen ein kleines Entgelt aus Espinozas Tasche ließen sie den Karren unter der Obhut einer dicken Frau, die einen Fabrikarbeiterinnenkittel trug, zwischen leeren Flaschenkisten und Türmen von Dosen mit Chili con Carne im Hinterzimmer des Restaurants, in dem sie gestern gegessen hatten. Dann verstauten sie die Teppiche und Sarapes auf dem Rücksitz und setzten sich zu dritt nach vorn. Der Junge war glücklich, und Espinoza sagte, er solle entscheiden, wo sie heute essen gingen. Am Ende landeten sie in einem McDonald's im Zentrum.
Das Mädchen wohnte in den westlichen Ausläufern der Stadt, dort, wo laut Zeitungsberichten die Morde begangen wurden, doch das Viertel und die Straße, in dem ihr Haus stand, wirkte auf ihn nur wie ein ärmliches Viertel und eine ärmliche Straße, von Katastrophen keine Spur. Er parkte das Auto vor dem Haus. Vor dem Eingang gab es ein winziges Gärtchen mit drei Blumenständern aus Palmzweigen und Draht, auf denen
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