272 - Dieser Hunger nach Leben
Dabei nippte er an einem Becher Rum, dessen Geschmack nur eine Erinnerung an frühere Genüsse war. Der Capitán war der Einzige, der nachts ruhelos über Deck und durch das Schiff wanderte und dafür ab dem frühen Nachmittag ruhte.
Nachdem die ersten Sonnenstrahlen auf das Deck der Doña Filipa fielen, erhoben sich auch die anderen Schatten und kamen an Deck. Maxim trug dabei den todkranken Don Alejandro de Javier, dessen letzte Tage sich nun auf ewig hinziehen würden. Er ließ ihn ziemlich unsanft auf ein Strohlager auf dem Vorderdeck fallen, wo er sich erst einmal die Seele aus dem Leib hustete. Nur Alfonso Eduardo Derdugo Alvarez blieb wie üblich in seinem Verschlag im Schiffsbauch, denn dort war der Mörder auf der Überfahrt nach Spanien eingesperrt gewesen.
Die Schatten bewegten sich wie in täglich gleichen Ritualen über das Deck. Garota und der Hundejunge standen an der Reling und erzählten sich gegenseitig Geschichten aus ihrer Vergangenheit. Maxim drückte sich nicht weit von den beiden entfernt um den Großmast herum und starrte Garota mit verzehrenden Blicken an. Miguel Hernando Juan Rodriguez Felipe Nuenzo, ein noch junger Mann, der einen Halbbart trug, saß in seiner Rüstung im Schneidersitz auf Deck und hatte seinen Helm neben sich liegen. Auch er hatte sich als Soldat durch die Neue Welt gekämpft und gemordet. Mateo Juan Vicente, vierter Sohn eines freien Bürgers und Mörder seines Bruders Hernan, stieg hingegen zum Capitán auf das Achterkastell hinauf, um Rum mit ihm zu trinken.
Vicente suchte Ablenkung im Rausch, seit ihn in der Neuen Welt die Albträume seiner ruchlosen Tat jede Nacht gepeinigt hatten. Und der Capitán erwies sich als sehr freigiebig, wenn jemand mit ihm trinken wollte, denn der Rumvorrat ging niemals zur Neige. Rodriguez holte einen Becher und schenkte Vicente ein. Sie stießen an. Der Kapitän schien diesen Vorgang mit irgendetwas Fröhlichem aus seinen Erinnerungen zu verbinden, denn plötzlich rief er: »Eine Runde Rum für alle! Holt ihn euch auf dem Achterkastell ab!«
Don Alejandro de Javier, der Spieler, bekam die Einladung gar nicht mit. Er befand sich bereits wieder im Fieberwahn und warf sich unter wirren Worten hin und her. Nuenzo und Maxim nahmen das Angebot an und holten sich ihren Rum ab. Bartolomé de Quintanilla gesellte sich lieber zu Garota und dem »Hundejungen«, von dem er in der Zwischenzeit wusste, dass es sich in Wirklichkeit um ein Mädchen namens Carla handelte, das durch diese Täuschung in der rauen Männerwelt der Conquista hatte überleben wollen. Fast zwangsläufig kamen sie auf die schlimmen Ereignisse zu sprechen, die sie hierher auf das verfluchte Schiff geführt hatten.
De Javier hob plötzlich seinen Oberkörper. Mit glühenden Blicken und weit aufgerissenen Augen schaute er hinauf zur Spitze des Großmastes. Dann zeigte er auf das Krähennest und schrie: »Da oben sitzt sie in ihrem Strahlenkranz, die heilige Jungfrau Maria! Seht ihr sie auch? Wie schön sie lächelt. Und wie gütig. Seid Ihr gekommen, mich zu holen, heilige Jungfrau? Oder wollt Ihr um meine verdammte Seele mit mir spielen?«
Der Dominikaner schlug dreimal das Kreuz und murmelte mit düsterem Blick: »Versündigt euch nicht weiter, de Javier. El diablo steht ohnehin schon bereit, wenn ihr die Pforte des Todes durchschreitet, und so bekommt er euch ganz gewiss.«
Plötzlich stieg eine weitere Gestalt aus der offenen Luke, die mittschiffs unter Deck führte.
Eine wunderschöne Frau. Sie war nicht sehr groß, besaß aber einen wunderbar weiblich geformten Körper von bronzener Hautfarbe, auf den schwarze und rote Streifen aufgebracht waren. Ein knapper Rock aus bunter Baumwolle saß auf ihren geschwungenen Hüften, und in ihren langen schwarzen Haaren steckten die Federn verschiedener Vögel. Halsketten und Ohrschmuck aus Muscheln schmückten sie ebenso wie verschiedene Ziergürtel, während ihre wunderbar geformten Brüste blank waren.
»Higuemota«, flüsterte Bartolomé de Quintanilla. Wie die anderen Schatten durchforstete er seine Erinnerungen nach der passenden Reaktion auf dieses ganz und gar überraschende Auftauchen. Und wurde fündig.
Aber war die Tochter des Maguá-Häuptlings Guarocuya nicht getötet worden? Aber nein - wie hätte sie sonst hier sein können? Er erinnerte sich, dass er sie unter den Leichen nie gefunden hatte.
Wie immer, wenn er sie einige Zeit nicht gesehen hatte, eilte er auf sie zu, schloss sie in die Arme, drückte sie an sich
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