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272 - Dieser Hunger nach Leben

272 - Dieser Hunger nach Leben

Titel: 272 - Dieser Hunger nach Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Schwarz
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sie starb und die Indios zu Hunderten über uns herfielen, um uns zu vernichten. Nur mit Mühe konnten wir sie abwehren und erst zahlreiche Kanonenschüsse aus den Bäuchen unserer Schiffe vertrieben sie.
    Da wir keinen Toten und nur einige Verwundete zu beklagen hatten, die Indios aber fünfzehn Tote und zahlreiche Verletzte, vergab mir der Genueser großzügig meine Tat. Die Frau, die ich getötet hatte, war die des Kaziken gewesen, wie mir Colón später anhand ihres Schmucks erklärte.
    In der Folge trat ich endgültig in den Dienst des Genuesers. Er bezahlte mich gut, wobei ich einen Teil meines Solds in Rum bekam. Ich nahm verschiedene Fahrten für ihn vor, darunter eine in die Heimat, denn ich hatte hundert der fünfhundertfünfzig Sklaven an Bord, die er mit sechs Schiffen nach Spanien transportieren ließ. Das bescherte mir eine direkte Begegnung mit Isabel la Católica, denn die Königin war persönlich nach Cádiz gekommen, um sich über die versklavten Indios zu empören. Sie gab uns den Befehl, sie alle wieder auf freien Fuß zu setzen und in die Heimat zurückzubringen, was wir zähneknirschend taten. Als Dank überfielen uns die hinterhältigen Taino, als die Küste bereits in Sichtweite war. Doch waren wir vorbereitet und erledigten sie allesamt mit unseren Degen.
    Die Jahre vergingen und das Leben in der Neuen Welt war nicht schlecht. Immer wieder transportierte ich Süßkartoffeln, Erdnüsse, den scharfen Pfeffer Aji, den die Taino anbauen, sowie Tabak und Yuca-Wurzeln nach Spanien, hin und wieder auch Sklaven. Aber selbst wenn ich in Cádiz landete, wollte ich nichts über das Schicksal meiner Mutter oder das unseres Gestüts erfahren, denn es kümmerte mich schon lange nicht mehr.
    Mein Schicksal erfüllte sich im Jahre des Herrn 1499. Es war im wundervollen Santo Domingo, das sich längst zur schönsten und pulsierenden Ansiedlung der Neuen Welt entwickelt hatte, dass ich mich von dem Dominikanermönch Bartolomé de Quintanilla breitschlagen ließ, ihn und sechs weitere heruntergekommene Abenteurer mit in die Alte Welt zu nehmen, da sie des Lebens in Las Indias überdrüssig waren. Ein achter Mann wurde mir vom Stadtkommandanten überantwortet: ein infamer Mörder, der angeblich seine Taten im Schlaf beging. Ich sollte ihn zu seinem Prozess nach Spanien bringen.
    Hätte ich doch niemals diese acht Verfluchten an Bord der Doña Filipa genommen! Schon kurz nachdem wir abgelegt hatten, begannen die Grausamkeiten des Schicksals. Keine Seemeile vom Hafen entfernt, klangen aus der Stadt Kampfeslärm und verzweifelte Schreie herüber, und wir beobachteten, wie ein gewaltiges Indio-Heer über Santo Domingo herfiel. Natürlich wollte ich umgehend wenden und der Stadt zu Hilfe kommen, doch der grobschlächtige Hüne drückte mir ein Messer an die Kehle und zwang mich, den Kurs beizubehalten. »Sie sind verloren - wir nicht!«, knurrte er.
    Wenn ich auch zugeben muss, dass uns diese Tat vermutlich das Leben gerettet hat - niemals hätten wir gegen die Übermacht bestehen können - so verbreiterte sie doch den Graben zwischen mir und den unerwünschten Passagieren. Sie wirkten unheimlich, wenn sie an Deck saßen und von ihren wirren Träumen sprachen, die sie des Nachts und auch noch am Tage plagten. Es wimmelte darin von finsteren Götzen der Indios und anderen unaussprechlichen Dingen.
    Ich bin mir sicher, dass sie das schreckliche Unglück, wenn nicht verursacht, so doch zumindest angezogen haben. Wir segelten just auf Höhe der Azoren, als ein rotes Glühen am Horizont unsere Aufmerksamkeit und unseren Schrecken erregte. Ich bin mir nicht sicher, weil ich derlei nie zuvor erlebte, aber es muss ein unterseeischer Vulkanausbruch gewesen sein, der in der Folge die riesenhafte Welle verursachte, auf deren Rücken wir himmelan ritten.
    Meine brave Mannschaft wurde aus den Wanten und von Deck gefegt; ich selbst hatte mich am Ruder festbinden lassen und trotzte so den Gewalten.
    Was dann geschah, vermag ich nicht zu deuten. War es die heilige Jungfrau Maria, die mein Flehen abermals erhörte und uns ein blaues Licht zu unserer Rettung schickte?
    Oder war es der Strahl von el diablo , der uns verschlang?
    ***
    Südküste Britanas, Oktober 2525
    In den letzten Monaten hatte Mutter ihre Schatten entlang der britannischen Kanalküste und der Nordküste des europäischen Festlandes die Energie von zahlreichen Menschen rauben lassen. Unermüdlich fuhren sie Küstenstädte an und holten sich gierig, was sie bekommen

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