272 - Dieser Hunger nach Leben
keinen Sinn, die Wölfin zu jagen; die Schatten würden sie niemals einholen oder gar einfangen können.
Nun galt es, mit der neu gewonnenen Energie zu haushalten, bis Guernsey erreicht war. Mutter rief Maxim und Garota zurück an Bord und wendete das Schiff.
Der Glanz, der in der Nacht von der Insel herüberleuchtete, nahm stetig zu. Bald war Mutter davon überzeugt, dort eine ganze Ansammlung von Tachyonenträgern vorzufinden. Für einen einzelnen Menschen schien die Strahlung viel zu stark zu sein.
Das Siliziumwesen schöpfte Hoffnung: Mit dieser Energiedosis wäre es lange Zeit gesättigt; vielleicht reichte sie sogar aus, um vollständig körperlich zu werden und den Mantel aus Harz abzusprengen!
Doch als die schwarze Karavelle über den Kanal segelte und die Insel fast schon in Sichtweite war, bemerkte Mutter , dass sich der Glanz plötzlich von dort entfernte! Er kam sogar ein Stück auf sie zu, beschrieb dabei aber einen weiten Bogen, wie ein Schiff, das gegen den Wind kreuzt. Obwohl Mutter augenblicklich den Kurs änderte, passierte der Segler in einigen Seemeilen Entfernung das Schattenschiff. Matt Drax und Aruula, mit der sterbenden Lady Victoria auf dem Rückweg nach Britana, ahnten nicht, wie knapp sie dem Tod entronnen waren. Sie hielten Kurs auf das Anwesen des Fischerehepaars, und ein kräftiger Wind trug sie zügig über die Meerenge.
Mutter pulsierte hektisch in hellem Rot vor Verzweiflung. Es blieb ihr nichts übrig, als die Verfolgung aufzunehmen und darauf zu hoffen, die Tachyonenträger an der Küste einzuholen.
Doch als die schwarze Karavelle erneut an der britannischen Südküste anlandete, fanden die Schatten nur noch ein Grab vor, nicht weit vom Haus des Fischerehepaars entfernt. Mutter erkannte den Glanz, den der versteinerte Körper darin abstrahlte: Es handelte sich um die Frau, die auf der Insel dem Schatten Bartolomé entkommen war. Der Hauptteil des Glanzes hatte sich jedoch von der Küste entfernt, so schnell, als bewegten sich die Tachyonenträger durch die Lüfte.(Vielmehr reisten Matt und Aruula auf X-Quads zurück nach London) Sie einzuholen war illusorisch.
Die Lebensenergie des versteinerten Körpers im Grab war verloren, doch der Glanz würde Mutter sättigen, bevor sie erneut in Agonie verfallen konnte. Der Schatten Garota fasste durch die Erde in das Grab und absorbierte die Strahlung.
Schon die wenigen Tachyonen genügten, um den Schattenleib der ehemaligen Hure zu festigen. Sie musste zur Karavelle zurückschwimmen, während Maxim grinsend neben ihr über das Wasser schritt. Nachdem sie die Nahrung aber an Mutter abgegeben hatte und sie sich im gesamten Kollektiv verteilte, wurde sie wieder so leicht wie die anderen Schatten. Sie ignorierte Maxim, der sie noch immer dümmlich angrinste, und schwebte hinüber zum »Hundejungen«, dessen Gesellschaft sie vornehmlich suchte.
Mutter teilte der Besatzung ihre weiteren Pläne mit. Sie hatte die Witterung, des starken Glanzes aufgenommen und wollte ihm weiter folgen. Da er sich aber übers Land bewegte, blieb nur die Möglichkeit, an der Küste entlang zu fahren und auf dem Weg weitere Lebensenergie aufzunehmen, weitere Küstendörfer zu überfallen.
Dieser Glanz ist unglaublich stark , ließ Mutter die Schatten wissen. Er muss von Wesen stammen, die selbst schon einmal in dem blauen Strahl waren. Mit ihrer Energie werden wir alle die Körperlichkeit erlangen, und ihr werdet endlich fähig sein, meinen Körper von der isolierenden Schicht zu befreien. Verzagt also nicht, Schatten - die Erlösung ist nahe!
Ein Gebaren aus ihrem früheren Leben imitierend, jubelten die Schatten Mutter zu. Nur einer hielt sich zurück: Bartolomé de Quintanilla.
Weitere Dörfer überfallen, weitere Leben vernichten , dachte der Dominikanermönch bedrückt. Wenn dies die Erlösung sein soll, dann kommt sie von el diablo selbst! O Herr Jesus, ich flehe dich an, gib mir ein Zeichen! Weise mir den richtigen Weg…
***
In den Nächten legten sich die Schatten in den Kojen der ehemaligen Besatzung zur Ruhe, obwohl sie keinerlei Schlaf benötigten. Aus ihren Erinnerungen wussten sie aber, dass sie nachts ruhen mussten, um am nächsten Morgen wieder gestärkt zu sein. Also taten sie es.
Mit derselben Gewohnheit ruhte Bartolomé de Quintanilla aber nur bis zur vierten Stunde des Tages. Dann erhob er sich, ging zum Bug des Schiffes, kniete sich hin und sprach seine Morgengebete. Wie so oft beobachtete ihn dabei der Schatten Antonio Rodriguez.
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