274 - Die dunkle Seite des Mondes
aus der Bilderfassung.
Stattdessen zeigte die Kamera zunächst nur ihre Fußabdrücke und Fahrspuren im Mondstaub. Doch nach weiteren Justierungen tauchte das Raumschiff auf dem Monitor auf.
»Sehr gut!« Braxton beugte sich vor, versuchte etwas zu erkennen, aber die CARTER IV war zu weit entfernt, um Einzelheiten zu sehen. »Können Sie näher heranzoomen?«
»Augenblick.«
In atemberaubendem Tempo raste das Raumschiff auf dem Monitor heran. So nah, bis sie einen akzeptablen Blick auf die verglaste Steuerkuppel werfen konnten.
»Näher komme ich nicht ran«, erklärte der Techniker.
Es reichte auch so. Sie sahen einen Marsianer in der Kuppel stehen.
»Ist das Lyran?«, fragte Calora.
Braxton nickte. Er konnte den Blick nicht von seinem Kopiloten lösen, der völlig regungslos dastand. Details vermochten sie nicht zu erkennen, aber als Lyran Gonzales seine Haltung nicht änderte, bestätigte sich ihr Verdacht. Er war zu Stein geworden! Was auch immer im Shuttle geschehen war, hatte seine Fortsetzung auf der CARTER IV gefunden.
Wieder kam dieser schauderhafte Gedanke in Braxton auf.
Etwas nimmt mir die Arbeit ab!
Dennoch spürte er keine Erleichterung darüber, dass das Schicksal die Regie übernommen hatte. Dass es ihm den Mord an vielen guten Marsianern ersparte. Was für eine bizarre Situation. Er war bereit gewesen, seine Leute zu töten, um eine schreckliche Bedrohung von der Erde vorzutäuschen. Und jetzt, da sie einer realen Gefahr gegenüberstanden, entsetzte es ihn, sie sterben zu sehen. Oder war es eher die Angst um das eigene Leben?
Wie auch immer, eines war klar: Die Mondstation musste aufgegeben werden, auch ohne dass er selbst zum Mörder zu werden brauchte.
»Zoomen Sie wieder zurück, sodass das ganze Schiff im Bild ist. Ich will wissen, wenn jemand oder etwas die CARTER IV betritt oder verlässt.«
»Was geschieht hier?«, flüsterte Calora Stanton. »Was geschieht hier nur?«
»Die Funkanlage ist jetzt einsatzbereit«, meldete da Ricard L. Pert. »Zumindest akustisch können wir Kontakt mit dem Mars aufnehmen!«
***
Elysium, Mars
Die Stimmung im Ratssaal war aufgeheizt wie schon lange nicht mehr. Dass sich dort, wo sich bei einer Sitzung sonst die Vertreter der fünf Häuser und ihre Berater aufhielten, nun auch noch vier Kameras des Senders ENT und zwei von EEI samt Kameramännern und Tonspezialisten in den Raum quetschten, trug sicherlich seinen Teil dazu bei. In erster Linie waren jedoch diejenigen Sitzungsteilnehmer dafür verantwortlich, die sich ProMars nahe fühlten und die die Ansichten der Organisation in offizielle Politik umsetzen wollten. Denn seit der ersten Meldung der CARTER IV hatten sie die Versammlung an sich gerissen und warfen immer wieder mit populistischen Parolen um sich.
Das Gesicht der Präsidentin Maya Joy Tsuyoshi wirkte wie versteinert. Doch man konnte erkennen, dass es hinter der starren Fassade vor Wut kochte. Aber was war ihr anderes übrig geblieben, als dieser Inszenierung zuzustimmen?
Vor einigen Wochen waren Gerüchte laut geworden, die Verbindung zum Erdmond sei nicht nur aus technischen Gründen abgebrochen. Innerhalb kürzester Zeit schossen Verschwörungstheorien empor wie Pilze aus feuchtem Waldboden. Die Mars-Regierung führe heimliche Experimente auf dem Mond durch, die schiefgegangen seien. ProMars habe den Erdtrabanten erobert, um die marsianischen Waldmenschen dorthin auszusiedeln. Die Erdmenschen hätten sich die Station zurückerobert und planten von dort eine Invasion des Mars.
Niemand wusste, woher die Gerüchte stammten, weil sie alles und jeden verdächtigten.
Die Präsidentin hatte versichert, sie werde die Öffentlichkeit umfassend informieren, wenn die CARTER IV auf dem Mond gelandet sei und Bericht erstattet habe. Woraufhin der Verdacht aufkam, sie wolle die Bevölkerung mit geschönten Nachrichten besänftigen.
Maya Tsuyoshi dementierte.
Und plötzlich trat ProMars auf den Plan. Die Organisation forderte, die Ankunft der CARTER IV live in einer Ratssitzung miterleben zu können und von dort aus über ENT in alle marsianischen Haushalte zu übertragen. Schließlich stehe auch ProMars im Verdacht unlauterer Machenschaften, den man auf diesem Weg ausräumen wolle. Die Vereinigung hege keinerlei Interesse am Erdmond, weder für die unterstellten noch für sonstige Zwecke. Vielmehr sei sie sogar der Meinung, die Station müsse aufgegeben werden. Wenn die Regierung ein genauso reines Gewissen und nichts zu verbergen habe,
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