274 - Die dunkle Seite des Mondes
sollte sie der Forderung nach einer Live-Übertragung nachkommen.
Auch wenn Maya sich regelrecht genötigt fühlte, erteilte sie ihr Einverständnis, lud in der Hoffnung auf objektivere Berichterstattung aber auch noch EEI ein.
Nun saß sie hier im Hexenkessel der Ratssitzung und fragte sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war. Aber hätte sie den Antrag abgelehnt, hätte ProMars nur wieder Stimmung gegen sie gemacht und selbst an Ansehen zurückgewonnen.
Die Sitzung dauerte inzwischen vier Stunden an. Drei waren mit allgemeinen Themen vergangen, doch dann hatte sich Henry Cedric Braxton, der Kommandant der CARTER IV, gemeldet.
»Von der Mondstation fehlt jegliches Lebenszeichen. Ich gehe davon aus, dass der Verbindungsabbruch nicht - ich wiederhole: NICHT - auf einem technischen Defekt beruht. Vielmehr deutet alles auf eine Einwirkung von außen hin. Ich vermute einen Angriff von der Erde. Wir gehen raus und sehen nach.«
Daraufhin hatten sich tumultähnliche Szenen abgespielt. ProMars hatte lautstark gefordert, die Mission sofort abzubrechen und den Heimweg anzutreten, konnte sich bei einer kurzfristig beantragten Abstimmung aber nicht durchsetzen. Beschimpfungen, Stifte, Papiere und auch der eine oder andere Schuh flogen durch den Raum. Der Ratssprecher, sonst ein gutmütiger alter Mann von fünfundfünfzig oder sechzig Marsjahren mit wallendem weißen Haar und angenehm sonorer Stimme, musste mehrfach die Ordnung wieder herstellen.
Was für eine Überraschung, als Maya feststellte, dass er auch laut werden konnte.
Die Präsidentin fürchtete, dass der Tag noch weitere Überraschungen für sie bereithielt. Wie richtig sie damit lag, merkte sie früher, als ihr lieb war.
»Wir haben Funkkontakt mit der Mondstation!«
***
Niemand konnte später mehr sagen, wer da gerufen hatte. Von einer Sekunde auf die andere herrschte Ruhe im Saal. Nur Braxtons Stimme hallte durch den Raum und pflanzte Entsetzen in die Herzen der Zuhörer.
In die der Unbefangenen, weil er eine wirklich schauerliche Geschichte von sich gab.
In die der wenigen ProMars-Mitglieder, die von dem Plan des fingierten Funkspruchs wussten, weil Braxton sich an keines der vereinbarten Szenarios hielt und stattdessen ein Schauermärchen erzählte, das ihm sicherlich kein Marsianer glauben würde.
Und in das von Maya Tsuyoshi, weil sie Braxtons Bericht so fatal an jenen erinnerte, den Matthew Drax ihr erstattet hatte: von der Versteinerung einer Techno-Kolonie, eines Fischerpärchens und eines ganzen Dorfes in Irland, einschließlich der Mutter seiner Tochter Ann. Die Präsidentin hatte niemandem auf dem Mars davon erzählt und auch Clarice Braxton und den Waldmann Vogler um Stillschweigen gebeten. Sie hatte ProMars keine Munition liefern wollen.
»Hier spricht Henry Cedric Braxton von der Station auf dem Erdmond. Das Funkgerät ist repariert, an einer Bildübertragung arbeiten wir noch. Wir haben noch nicht genau herausgefunden, was hier geschehen. ist, aber es hat sich als deutlich schlimmer herausgestellt, als zunächst vermutet. Ein unbekanntes Phänomen, vermutlich eine Geheimwaffe der Erdmenschen, hat dafür gesorgt, dass die Stationsbesatzung versteinert - ich wiederhole: versteinert - ist. Wir wissen nicht, wie oder warum es passiert, aber wir wissen, dass es noch nicht zu Ende ist. Inzwischen sind auch Mitglieder meiner Crew dem Angriff zum Opfer gefallen.«
In drastischen Worten schilderte er das Auffinden der Versteinerten im Shuttle. Er versicherte, er werde alles tun, um die Überlebenden nach Hause zu bringen, und bat eindringlich darum, keine Rettungsmission zu schicken, falls er scheiterte. »Wir müssen die Mondstation aufgeben. Es wäre viel zu gefährlich, noch einmal hier zu landen!«
Gerade als Maya Joy Tsuyoshi dachte, der Tag könne nicht noch schlimmer werden, flog die Tür zum Ratssaal auf und eine weißblonde Frau stürmte herein. »Glauben Sie kein Wort von dem, was Kommandant Braxton Ihnen erzählt! Er ist ein Lügner!«
Chandra!
***
Nicht nur die Blicke aller Anwesenden, sondern auch drei Kameras - und somit die Augen der fernsehenden Bevölkerung - richteten sich auf die blonde Marsianerin. Zweifel schossen in ihr hoch, dass dies der richtige Weg war, ProMars zu Fall zu bringen.
Doch die Fähigkeit zu planvollen, durchdachten Handlungen und Chandra lebten derzeit ohnehin in unterschiedlichen Universen. Zumindest hatte sie diesen Eindruck, wenn sie die letzten Minuten - oder waren es Stunden? - Revue passieren
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