279 - Der Fluch von Leeds
einzigen Tag ließ sie ihn im Bunker zurück, aus Sorge, Allison und Ryaan könnten ohne sie Leeds verlassen.
Während sie nun über den Markt schlenderte, genoss sie den Duft von Bratapfel und Anistee und die Geräusche der Stimmen, die in den verschiedensten Dialekten von allen Seiten an ihre Ohren drangen. Hier war nichts zu spüren von Feindseligkeit oder der Furcht vor den fliegenden Monstern, die die Menschen hier Stingars nannten. Kaum war Ann eingetaucht in das geschäftige Treiben, vergaß sie Kummer und Sorgen. Vergaß den verlogenen Fletscher, der sie in Wallbridge als seine Nichte ausgab und immer noch versuchte, sie zum Bleiben zu überreden. Und sogar der Schmerz um den Verlust ihrer Mum und ihres Ziehvaters verblasste hier für einige Stunden.
Sie liebte das Gewimmel um die bunten Verkaufsstände und die vielen fremdartigen Kleider, die die Menschen hier trugen. Lange Gewänder aus glänzendem Stoff. Leute mit angemalten Gesichtern und Umhängen aus exotischen Federn. Männer in karierten Röcken mit merkwürdigen Sackinstrumenten vor ihrem Bauch. Ann wusste, dass sie von weit her kamen. Manche mit Schiffen, andere mit den Handelskarawanen, die jeden Tag auf dem Platz vor der Hafeneinfahrt eintrafen. Dort gab es seltsame Eisenfahrzeuge und fliegende Reittiere zu sehen.
Jetzt stapfte Ann immer weiter in das Getümmel, bis sie beinahe den Karawanenplatz erreicht hatte. Sie bog in einen schmalen Pfad, den Verkaufstische und Sitzmatten säumten. In diesem Teil des Marktes boten die Einheimischen ihre Waren an. Und hier war das kleine Mädchen mit den blonden Haaren, den großen blauen Augen und dem Zettelblock um seinen Hals inzwischen bekannt wie ein bunter Hund. ›Die Waise aus Corkaich‹ wurde sie genannt. Das stumme Kind, das mit den Fremden aus Luimneach mit einem EWAT abgestürzt war.
Als man sie kommen sah, wurde sie von allen Ecken freudig begrüßt. Ann erwiderte die Grüße mit einem strahlenden Lächeln. Sie nickte dem Gürtelmacher zu und der Gemüsefrau. Winkte den Händlern beim Fischstand und dem Schmied, der hier Werkzeuge verkaufte. Dann holte sie sich bei Enrico die gerösteten Nüsse, die er jeden Tag für sie in einer grünen Tüte bereithielt. Vor vielen Jahren war er mit seiner Familie hierher gekommen und hatte eine Tochter in Anns Alter. »Bonita chica«, lachte er und streckte die Arme aus, als wolle er die Sonne anbeten.
Ann mochte seine komische Sprache. Eine Weile hörte sie seinen Albereien zu. Dann verabschiedete sie sich und lief zum Ende der Verkaufstische. Dort wurde sie schon von dem alten Korbmacher Ben erwartet. »Hallo Ann, schön, dass du kommst. Schau nur, heute habe ich besondere Gesellschaft.« Er deutete auf eine rothaarige, pummelige Frau und einen kleinen Jungen, die neben ihm auf Bastmatten saßen. Die Frau hatte einen flachen Stein vor sich liegen und bearbeitete mit einem winzigen Hammer glänzendes Metall. Der Junge spielte mit silbernen Murmeln. »Das sind meine Nichte Alice aus Stirling und ihr Sohn Joosh. Und das ist Ann, von der ich euch erzählt habe.«
Nachdem man sich begrüßt hatte, erfuhr das Mädchen, dass Alice in Schottland Schmuck herstellte. Weil die Geschäfte dort nicht gut liefen, versuchte die Nichte eine Weile hier ihr Glück. »In Leeds sind die Männer großzügiger als in Stirling. Jeder, der etwas auf sich hält, überhäuft hier seine Frau mit Geschmeide«, behauptete der alte Ben.
»Was du nicht sagst«, lachte Alice. »Noch kein einziger Kerl ist heute stehen geblieben, um sich meinen Schmuck anzusehen.« Sie hatte eine tiefe Stimme und graue Augen. Irgendwie erinnerte sie Ann an ihre Mum. Die Art, wie sie lachte, und die Herzlichkeit, mit der sie sprach. Sie trug eine Hose aus Wakudaleder und ein weites Leinenhemd. Darüber hatte sie einen breiten Gürtel geschnallt, in dessen Schlaufen allerlei Werkzeug und ein mächtiger Dolch steckten.
Während sich Matt Drax' und Jenny Jensens Tochter zu dem kleinen Joosh setzte und ihm von ihren Nüssen anbot, erhob sich der alte Ben mühsam von seiner Matte. »Nachdem ich nun so viele wachsame Augen bei meinen Waren weiß, kann ich ja beruhigt ein paar Besorgungen machen.« Fröhlich zwinkerte er Ann zu und kniff dem kleinen Joosh liebevoll in die Wange.
Sobald er in der Menge verschwunden war, wurde es ruhig am Korbmacherstand. Auch wenn Alice ihr ein Lächeln zuwarf, wusste Ann, dass die Rothaarige nicht mit ihr reden würde. So reagierten fast alle, die Ann das erste Mal trafen
Weitere Kostenlose Bücher