28 Tage lang (German Edition)
SS -Mann weniger, der singend Kinder töten konnte.
55
Nach einer halben Stunde flohen jene Soldaten, die noch laufen konnten, vorbei an ihren toten Kameraden und an dem ausgebrannten Panzer, hinaus aus dem Ghetto. Ob sie einen Befehl dazu bekommen hatten oder aus Panik die Flucht ergriffen, war einerlei. Die Soldaten rannten vor uns Juden davon. Unglaublich. Sie rannten vor uns Juden davon!
Und etwas war sogar noch unglaublicher: Als sich das erste Chaos gelichtet hatte und wir die Meldungen von allen Gruppen, die an der Kreuzung postiert waren, über unsere eigenen Verluste erhielten, stellten wir fest, dass es gar keine gab. Sämtliche Kämpfer hatten überlebt.
Wir konnten unseren Sieg, unser Glück, unser Überleben kaum fassen. Alle fielen sich in die Arme, drückten sich, lachten, weinten, jubelten. Ein paar Kämpfer tanzten sogar spontan Walzer zu einer beschwingten Musik, die gar keiner spielte, die sie lediglich selber summten.
Wie gerne hätte ich jetzt auch Walzer getanzt, wenn ich denn je die Tanzschritte gelernt hätte.
Mordechai drückte mich an seine Brust, ebenso taten das Kameraden, die ich kaum kannte, weil sie erst zu uns gestoßen waren, als ich mit Amos im polnischen Teil der Stadt war. Selbst Esther umarmte mich.
«Hast du gesehen, wie der Panzer brannte?», strahlte sie.
Alles bisher Geschehene spielte angesichts des Triumphes keine Rolle mehr.
Am allermeisten leuchtete das Gesicht von Ben Rothaar. Mit seinem Gewehr in der Hand trat er zu mir ans zerschossene Fenster und lächelte: «Acht.»
Er hatte mitgezählt.
«Acht hab ich erwischt.»
Er sagte das, ohne zu stottern. Gewiss hatte er sich immer schuldig dafür gefühlt, dass sein Vater mit den Deutschen kollaboriert hatte, und jetzt, da diese Schuld getilgt war, war er befreit. «Für Hannah», sagte er ernst und wirkte mit einem Mal ganz erwachsen.
Ich war mir unsicher, ob ich mit «für Hannah», antworten sollte. Zwar war ich dem Widerstand beigetreten, damit ihr Tod einen Sinn machte, doch meine Schwester würde für immer vergessen sein, wenn Ben und ich starben. Und wir würden gewiss fallen, morgen oder übermorgen, selbst wenn wir heute triumphierten. Nein, wir taten das hier nicht für Hannah. Amos hatte recht. Wir taten es für die zukünftigen Generationen. In deren Gedanken würden wir weiterleben.
Ich streichelte Ben Rothaar über die Wange. Auch wenn er erwachsen wirkte und vorübergehend – oder gar bis zu seinem baldigen Lebensende – nicht stottern würde, sah ich in ihm den kleinen Jungen, der von meiner Schwester geküsst worden war.
Amos ging auf mich zu und lachte: «Wir leben!»
«Wir leben», bestätigte ich das Wunder.
Und wir küssten uns, als hätten wir doch nicht für die zukünftigen Generationen gekämpft, sondern einzig und allein für diesen Kuss.
56
Als es dunkel wurde, gingen wir durch die Straßen und sahen die toten, zerschossenen und teils zerfetzten Leiber unserer Feinde. Es roch nach Rauch und nach verkohltem Fleisch. Nicht nur hier, sondern auch an anderen Stellen im Ghetto, wo Kampfgruppen die SS zurückgeschlagen hatten. Und es roch nach Alkohol. Die Juden feierten! Die Kämpfer, aber auch viele Zivilisten, die nun im Schutz der Nacht aus ihren Bunkern krochen.
Esther bestieg den ausgebrannten Panzer. Der war ihre Trophäe. Mordechai und andere sammelten die Waffen der toten Soldaten ein.
Und in mir wuchs die Hoffnung, dass morgen nicht mein letzter Tag auf Erden sein würde, dass wir ein, zwei weitere Tage oder gar eine Woche den Kampf durchhalten könnten, den wir militärisch nie für uns entscheiden würden, aber moralisch mit dem heutigen Tage bereits gewonnen hatten.
Amos trat zu mir, seine Stimme stockte: «Mira …»
«Was ist?», fragte ich irritiert.
«Schau», sagte er und rang mit den Tränen.
Er zeigte zu einem Dach am Muranowskiplatz, und ich begriff, dass er nicht traurig war, sondern zutiefst bewegt. Dort oben wurden zwei Fahnen gehisst. Die weiß-rote polnische und die blau-weiße des Widerstandes.
Auch mir schossen die Tränen in die Augen. Ich musste mich an die Flagge erinnern, die Korczaks Kinder bei ihrem Gang zu den Viehwaggons bei sich getragen hatten.
Die Tränen über die toten Kinder vermischten sich aber mit denen der Freude. Deutsche, Polen, Ukrainer, Letten, all unsere Feinde und auch unsere wenigen Freunde jenseits der Mauer konnten diese Flaggen sehen.
Ich war noch nie zuvor so stolz wie in jenem Moment, in dem diese Flaggen im sanften
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