28 Tage lang (German Edition)
der Feind mit einem Meer von Blut bezahlen.»
Wir würden diese Waffen nicht bekommen, das war mir seit unserer Mission auf der polnischen Seite klar, und es war auch Mordechai bewusst. Aber was sollte er auch sonst sagen als Aufmunterung vor einem Kampf? Die Wahrheit? Dass wir in wenigen Stunden alle tot sein würden?
Wir waren insgesamt schätzungsweise 1400 unausgebildete Kämpfer, verteilt im gesamten Ghetto, die sich den Deutschen und ihren Panzern stellen würden, und wir hatten nicht mal eine Pistole pro Mann, dazu lediglich ein paar hundert Handgranaten und Molotowcocktails. Ja, es würde ein Meer von Blut geben. Darin würde jedoch nicht das Blut von deutschen Soldaten fließen, sondern unseres.
Es wäre einfacher gewesen, in den Tod zu ziehen, wenn nicht der Frühling angebrochen wäre. An diesem Morgen des 19 . April 1943 schien die Sonne auch über dem Ghetto und machte uns damit nicht nur das Leben, sondern auch das Sterben schwerer.
Nach der Ansprache von Mordechai besetzten die Kämpfer unserer Gruppe ihre Positionen an Fenstern, auf Balkonen, auf dem Dach. In sechs umliegenden Häusern hatten sich einige weitere Gruppen verschanzt, sodass ungefähr hundert Kämpfer die Kreuzung zur Zamenhof-Straße von allen möglichen Lagen aus ins Visier nehmen konnten. An dieser Ecke müssten die Deutschen vorbeikommen, gleich nachdem sie durch das Ghettotor eingefallen waren.
Ich selber war, wie fast alle, mit einer Pistole und einer Handgranate bewaffnet. Nur Ben Rothaar besaß ein Gewehr. Gemeinsam mit einem Kameraden hatte er vor zwei Wochen einen Soldaten nachts in Mauernähe überfallen und es ihm abgenommen. Seitdem hütete er es wie einen Schatz.
Ich positionierte mich neben Amos an einem Fenster im vierten Stockwerk. Zuerst war ich unsicher, ob ich mir nicht doch lieber eine andere Stellung suchen sollte. Wollte ich wirklich neben dem Menschen, den ich liebte, kämpfen und sterben? Oder war es nicht doch besser, wenn ich nicht mit ansehen musste, wie ihn die Kugeln trafen?
Amos machte sich solche Gedanken nicht. Er war ganz auf den kommenden Moment der Rache fokussiert. Selbst wenn ich mich von ihm hätte verabschieden wollen, bevor die Deutschen kamen, wäre er darauf nicht eingegangen. So wollte ich wenigstens von meiner kleinen Schwester Abschied nehmen.
«Wir erreichen bald die Spiegelinsel», freute sich Hannah auf dem Deck der
Langohr
, die jetzt durch recht unruhige See fuhr. Von dem Spiegelmeister hatte ich auch in den letzten Tagen nicht mehr schlecht geträumt, vermutlich weil ich kein schlechtes Gewissen mehr haben musste, dass ich überlebt hatte, würde doch heute mein Ende kommen.
«Und dann», plapperte Hannah ganz aufgeregt und zeigte mir dabei die drei magischen Spiegel, die wie Diamanten funkelten, «werden wir das Böse aus der Welt vertreiben.»
«Aber nicht», prahlte Kapitän Karotte, «ohne ihm vorher gehörig in den Hintern zu treten.»
Ich lächelte. Wenigstens eine Welt würde befreit werden.
«Sie kommen!», hörte ich Esther rufen. «Die Deutschen kommen!»
Ihr Ruf drang bis in die Welt der 777 Inseln.
Ich wollte meiner Schwester noch so viel sagen, aber es war keine Zeit mehr dafür. Ich umarmte sie und flüsterte: «Ich liebe dich.»
Sie protestierte: «Du erdrückst mich.»
Aber ich wiederholte noch einmal: «Ich liebe dich.»
Damit war auch alles gesagt. Ich nahm all meine Willenskraft zusammen und verließ sie. Gewiss für immer.
54
Vorsichtig lugte ich durch ein zerbrochenes Fenster, von dem aus ich einen perfekten Blick auf die Straße hatte und auch sehr gut schießen könnte, falls ich denn in der Lage sein würde, noch mal das Leben eines anderen Menschen zu nehmen.
Die Deutschen konnten uns so einfach vergasen, weil sie in uns keine menschlichen Wesen sahen. Wir hingegen wussten genau, was für Menschen sie waren, und deswegen brannten die anderen Kämpfer auch darauf, sie zu töten. Ich aber sah vor meinem geistigen Auge immer noch das Gesicht des jungen Soldaten, der um Gnade gefleht hatte, und wusste nicht, ob ich wirklich zum Töten bereit war.
In der Ferne sahen wir einen Panzer in das Ghetto rollen, gefolgt von vielleicht zwanzig Judenpolizisten. Hinter den Verrätern marschierten in Viererreihen Soldaten mit geschulterten Gewehren, und es war kaum zu glauben, was diese dabei taten. Für einen Moment dachte ich sogar, ich würde es mir nur einbilden. Doch da bestätigte Amos leise: «Die singen.»
Im grünen Walde, da steht ein
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