28 Tage lang (German Edition)
Frühlingswind wehten und Hunderte Juden jubelten. Immer hatte ich gedacht, bei der Geschichte von Masada wäre es darum gegangen, dass Juden einen würdevollen Tod gestorben waren.
Das war falsch gewesen. Es ging darum, frei zu leben. Wir hatten die Soldaten vertrieben. Das Ghetto gehörte uns. Vielleicht nur für eine Nacht. Aber wir waren frei. Und wir würden es für den Rest unseres Lebens sein!
57
Erst waren wir alle viel zu aufgekratzt, um auf unseren Kampfposten in den Wohnungen einzuschlafen. Jeder erzählte von seinen eigenen oder von anderen Heldentaten: «Hast du gesehen, wie Sarah die Handgranate auf den Offizier geworfen hat?», «Die Arbeiter im Bürstenmacherbezirk verstecken sich alle, sie kommen der Aufforderung nicht nach, sich umsiedeln zu lassen», «Einer der Kämpfer hat dem Besitzer der Bürstenfabrik in die Hand geschossen.»
Nach und nach wurden die Stimmen jedoch leiser und die Menschen nachdenklicher.
«Wie lange werden wir durchhalten?», «Was werden die Deutschen morgen machen?», «Hoffentlich sterbe ich durch eine Kugel und nicht in den Flammen.»
Amos und ich lagen beieinander. Hand in Hand. Wir redeten nicht, sahen uns nur im Licht des Mondscheins an. Beseelt davon, dass uns noch etwas gemeinsame Zeit geschenkt worden war. Nein, nicht geschenkt. Wir hatten sie uns erkämpft.
Amos lächelte: «Ich kann jetzt schon zufrieden sterben.»
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich war glücklich in diesem Moment und endlich ein freier Mensch. Aber sterben wollte ich nicht.
Obwohl ich so aufgewühlt war, dass ich dachte, ich könne niemals mehr einschlafen, übermannte mich schließlich doch die Müdigkeit. Mein Schlaf war tief, ich träumte nicht mal, was für mich ein Segen war.
Als ich gegen Ende der Nacht aufwachte, schlummerte Amos neben mir, so friedlich, wie ich ihn noch nie hatte schlafen sehen. Der Schmerz seiner Seele schien gelindert zu sein, seine Freunde waren gerächt.
Mordechai kam zu uns und weckte Amos. Der öffnete die Augen und brauchte kaum eine Sekunde, um wach zu werden und aufzuspringen. Während ich mich aufrappelte, rief Mordechai noch Esther und Ben Rothaar hinzu und erklärte: «Ihr vier geht zu unseren Leuten in der Nalewki-Straße 33 und verstärkt deren Truppe. Wir gehen davon aus, dass es dort zu noch heftigeren Gefechten kommen wird als hier in der Miła.»
Als wir kurz darauf zu viert auf die Straße traten, war die Luft kühler als am Tag unseres großen Triumphes, der Himmel war aber immer noch klar und wolkenfrei. Über dem Ghetto ging die Sonne auf, und ich verdrängte ganz schnell die Frage, ob dies mein letzter Sonnenaufgang sein würde. Ich wollte mir einfach nur sein wunderschönes Farbenspiel betrachten. Da lachte Ben Rothaar: «Am Tag sind sie noch schöner.»
Er deutete auf das Gebäude am Muranowskiplatz, an dem die beiden Flaggen wehten.
Es war immer noch unglaublich. Das Ghetto war in diesem Augenblick für mich kein Gefängnis mehr, sondern meine Heimat.
58
Wir erreichten die Kreuzung Gęsia/Nalewki/Franciszkańska-Straße und hörten aus der Nalewki 33 Musik. Ein Kämpfer spielte Akkordeon, und die wunderschönen Klänge verzauberten das Ghetto. Eine Heimat mit Musik. Gibt es etwas Wunderbareres?
«Schubert», erkannte Esther, die ja deutlich mehr Schulbildung genossen hatte als ich.
«Komponieren können die Deutschen fast so gut wie morden», stellte Amos fest und öffnete die Tür zur Nalewki 33 . Wir gingen das Treppenhaus hoch, vorbei an zerschossenen Scheiben, und meldeten uns in der obersten Wohnung bei Rachel Belka, einer Frau, die so entschlossen, stark, gar herb erschien, dass selbst Esther ihr gegenüber wie ein kleines Mädchen wirkte. Rachel gehörte zu den ältesten Kämpfern, war mit ihren neunundzwanzig Jahren sogar fünf Jahre älter als unser Anführer Mordechai.
Wir überbrachten ihr die neusten Nachrichten, und sie wies uns unsere Posten zu. Amos und ich stellten uns auf einen der oberen Balkone. Von dort aus konnten wir sehen, wie sich die Deutschen vor einem der Ghettotore sammelten. Judenpolizisten waren auch wieder dabei, diesmal als menschliche Schutzschilde. Jede Kugel, die einen der Kollaborateure durchsiebte, konnte keinen Deutschen treffen. Zwei Panzer rollten zum Tor und nahmen dort Stellung ein.
«Die werden auf uns feuern», sprach ich das Offensichtliche aus.
«Die müssen uns erst mal treffen», erwiderte Amos. «Die haben zu viel Abstand und trauen sich nicht näher.»
Das
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