28 Tage lang (German Edition)
muss das Schlimmste für die SS gewesen sein: Juden hatten einen ihrer Panzer vernichtet, des Deutschen liebstes Kind.
«Bist du dir sicher, dass die uns nicht treffen?», fragte ich.
«Wir werden es bald herausfinden», lächelte Amos.
Ich nahm mir ein Fernglas, sah hindurch und erkannte, dass im polnischen Teil das Leben ganz normal weiterging: Menschen machten sich auf den Weg zur Arbeit, Händler boten ihre Ware an, Autos fuhren durch die Straßen, alles nur ein paar hundert Meter entfernt.
Hier bei uns tobte der Krieg, und die Polen benahmen sich, als ob sich das Ganze auf einem fremden Planeten abspielen würde. Mars. Jupiter. Uranus.
Falls überhaupt jemand von uns noch die Illusion gehegt haben sollte, dass wir die Polen inspirieren könnten, sich uns anzuschließen und sich gegen die Besatzer zu wehren, wäre er allerspätestens jetzt enttäuscht gewesen.
Eine schwarze Limousine hielt am Ghettotor. Der chauffierende Soldat stieg aus, öffnete die hintere Seitentür, und aus dem Wagen trat ein streng wirkender Hüne in SS -Offiziersuniform. Der Hüne zog sich seine Lederhandschuhe an, als ob er sich nicht die Finger schmutzig machen wollte.
Amos bat mich: «Gib mir mal das Fernglas.»
Ich reichte es ihm.
«Generalleutnant Stroop.»
Der Oberbefehlshaber der SS in Warschau war also gekommen, um die Aktion höchstpersönlich zu leiten. Er hieß Jürgen mit Vornamen, aber – so hatten wir gehört – geboren worden war er mit dem Namen Josef. Sein Judenhass war so groß, dass er seinen Vornamen vor zwei Jahren offiziell hatte ändern lassen.
Stroop war das Naheste an Hitler, Himmler oder Goebbels, was ich je zu Gesicht bekommen hatte. Himmler hatte vor ein paar Monaten einmal das Ghetto besucht, aber keiner von uns war dem Monster begegnet. Lediglich ein paar Juden, die in der Werterfassung gearbeitet hatten, und von denen hatte leider niemand den Mut besessen, den Dämon zu attackieren.
Vier Soldaten schleppten einen schweren Eichentisch nach draußen und stellten ihn vor Stroop ab. Ein weiterer Deutscher trug einen Stuhl, dahinter lief noch einer mit Schreibutensilien. Der Generalleutnant setzte sich an seinen Tisch, um von dort aus die Aktion zu befehligen.
Amos machte sich auf, den Balkon zu verlassen.
«Wo willst du hin?», fragte ich ihn. «Hier ist doch unser Posten.»
«Jetzt nicht mehr», grinste Amos und verschwand.
Mich irritierte das nicht nur, es ärgerte mich. Ich hatte gedacht, dass wir auf diesem Balkon Seite an Seite kämpfen und vielleicht auch sterben würden. Amos aber war mit einem Mal so aufgekratzt, dass er sich noch nicht mal von mir verabschiedete.
Ich rang mit mir, ob ich ihm folgen sollte, aber das war eigentlich keine Frage.
Bevor ich die Wohnung verließ, stellte sich Esther mir in den Weg und fragte: «Warum verlasst ihr beiden eure Posten?»
«Das möchte ich auch gerne wissen», antwortete ich und schob sie einfach beiseite.
59
Eine halbe Stunde später befahl Generalleutnant Stroop seinen Soldaten, ins Ghetto einzufallen. Diesmal schleppten sie Matratzen, auf denen einst Ghettobewohner geschlafen hatten, errichteten eine Barrikade und schossen auf uns. Amos und ich lagen mit den anderen Kämpfern auf dem Dach und erwiderten das Feuer. Ich hatte immer noch nicht begriffen, warum er unbedingt hier oben sein wollte, fragte aber nicht danach. Ich stellte gar keine Fragen mehr. Weder anderen noch mir selbst. Zu schießen und beschossen zu werden war für mich mit einem Mal nichts mehr, worüber ich nachdachte. Ich war so voller Adrenalin.
Einige von uns zündeten Molotowcocktails an und warfen sie auf die Soldaten. Deren Matratzen gerieten in Brand, sie verloren die Deckung, und wir schossen auf sie.
Die Panzer nahmen darauf von der polnischen Seite aus unsere Stellungen unter Beschuss, verfehlten aber – wie Amos vermutet hatte – ihr Ziel. Und ich dachte bei mir: Die Herrenmenschen treffen uns nicht, weil sie so viel Angst vor uns haben.
Amos sprang auf und rannte zu den Kameraden, die die Molotowcocktails warfen. Unten suchten die Soldaten wie am Vortag in den Hauseingängen Schutz und schossen und schossen und schossen. Im Gegensatz zu uns mussten sie nicht mit Munition sparen.
Amos schnappte sich einen Molotowcocktail, nahm Anlauf und warf die Flasche, so weit er konnte. Nicht auf die Soldaten, nicht auf die Panzer, sondern in Richtung des SS -Führers Stroop, der an seinem in dieser Situation regelrecht lächerlich wirkenden Kartentisch stand.
Weitere Kostenlose Bücher