28 Tage lang (German Edition)
fragte mich: «Wo bist du all die Zeit gewesen?»
«Ich … war zu Hause», antwortete ich ausweichend.
«Wie ist es im Ghetto?», fragte Hannah völlig aufgeregt, «Hat sich da was verändert?»
Was sollte ich ihr darauf antworten? Dass Mama tot war? Dass sie selbst tot war?
Sie hatte ein Recht darauf, das alles zu erfahren, aber ich brachte es einfach nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. Daher antwortete ich: «Es ist kompliziert. Ich erzähle dir das irgendwann, aber nicht jetzt.»
«Wann denn genau?», fragte sie misstrauisch.
«Wenn …», suchte ich nach einer Ausrede, «wir den Spiegelmeister besiegt haben.»
«Das wird nicht mehr lange dauern», freute sich Hannah. «Wir haben dem Sandmann den dritten magischen Spiegel abgeluchst und halten nun Kurs auf die Spiegelinsel.»
Ich schluckte, verdrängte aber die Gedanken an das Monster und daran, wie schuldig ich mich fühlte, weil ich nicht mit ihr gestorben war. Stattdessen tanzte ich weiter mit ihr über das Deck. Ich genoss es so sehr. Das Leben war so friedlich. Auf den 777 Inseln. Und in unserer kleinen Wohnung.
Bis wir erfuhren, dass die Deutschen weitere Einheiten nach Warschau verlegten.
52
«Ich werde in das Ghetto zurückkehren», sprach Amos beim Abendessen aus, was ich schon befürchtet hatte. «Wenn der Kampf losgeht, will ich bei unseren Kameraden sein.»
«Aber irgendjemand muss doch den Kontakt zum polnischen Widerstand halten», widersprach ich.
Wenn wir hier auf der polnischen Seite blieben, so dachte ich, würden wir nicht abgeschlachtet werden. Jedenfalls nicht sofort. Ich fürchtete nicht um mein Leben, obwohl ich in den letzten Tagen etwas gefunden hatte, wofür es sich zu leben lohnte. Ich hatte Angst um Amos, ich würde es nicht ertragen, noch einen Menschen zu verlieren, den ich liebte.
«Du kannst ja bleiben», sagte Amos, und seine Augen funkelten wütend.
Das versetzte mir einen Stich. Und gleichzeitig schämte ich mich. Auch für mich sollte doch der Widerstand wichtiger sein als unsere Liebe. Aber in diesem Moment war er es einfach nicht.
«Ich kann doch hier nicht alleine …», begann ich zu argumentieren.
«Mordechai wird jemanden schicken», schnitt mir Amos das Wort ab. Er war wütend auf mich. So wie ich wütend auf ihn war, dass er mich allein lassen würde.
«Mordechai soll auch für mich jemanden schicken», gab ich scharf zurück. «Ich gehe mit dir.»
Lieber starb ich an seiner Seite im Kampf, als im polnischen Teil der Stadt ein paar Tage länger ohne ihn zu überleben.
«Gut», sagte Amos, und seine Gesichtszüge wurden wieder ein klein wenig weicher.
«Gut», sagte auch ich.
Schweigend räumten wir ein letztes Mal unseren Küchentisch ab, machten ein letztes Mal den Abwasch, knipsten ein letztes Mal die Lichter aus und legten uns ein letztes Mal in unser «Ehebett».
Amos starrte im Dunkeln an die Decke. Ich sah wieder durch das Fenster in den Himmel. Es war Halbmond. Den Vollen würde ich wohl nicht mehr erleben.
«Es tut mir leid», sagte Amos mit einem Mal.
«Was?» Ich drehte mich zu ihm.
«Alles.» Er wandte sich auch mir zu. Unsere Gesichter lagen ganz nah beieinander.
«Alles?»
«Und nichts.»
«Geht es noch ein klein wenig rätselhafter?», fragte ich.
Amos rang mit sich, dann sagte er: «Ich glaube, ich liebe dich, Mira.»
«Du glaubst es?»
«Das ist das Einzige, woran ich je in meinem ganzen Leben geglaubt habe.»
Nachdem er das gesagt hatte, schliefen wir miteinander.
53
Mordechai wirkte gefasst, als wir uns in dem Treppenhaus der Miła-Straße 29 versammelten. Dabei war er innerlich gewiss genauso angespannt wie wir alle. Schließlich würden in wenigen Minuten die Deutschen ins Ghetto einmarschieren. Für ihre finale Aktion hatte sich die SS bewusst den Beginn des heiligen jüdischen Pessachfestes ausgesucht.
«Die Zeit, auf die wir gewartet haben, ist gekommen», sprach Mordechai zu uns. «Wir werden den Feind ermüden, ihn ständig angreifen, hinter den Toren, hinter den Fenstern, aus Ruinen, Tag und Nacht.»
Neben mir stand Amos, seine Augen leuchteten, auch Esther sah wild entschlossen aus. Sie hatte kühl darauf reagiert, dass Amos und ich jetzt ein Paar waren. Es gab nun viel Wichtigeres auf der Welt als die Liebe. Für sie. Für Amos. Und wohl auch für mich.
«Die Deutschen», sprach Mordechai weiter, «werden monatelang unaufhörlich kämpfen müssen. Wenn wir all jene Waffen, die Munition und die Sprengkraft bekommen, die wir brauchen, wird
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