28 Tage lang (German Edition)
Karotte mochte keine kichernden Kinder und rief: «Ihr werdet sterben!»
«Irgendwie», kicherte Hannah weiter, «wirkt das wenig bedrohlich, wenn ein süßer Hase das zu einem sagt.»
«Und wie wäre es, wenn ich das sage?», hörten sie eine donnernde Stimme.
Sie drehten sich wieder um. Vor den beiden stand ein riesengroßer Werwolf. In seinen Barthaaren hingen Fleischreste, von denen man gar nicht so genau wissen wollte, von was oder gar von wem sie stammten.
«Dann schon eher», schluckte Hannah.
«W… wir … hätten nie d… d… das Buch klauen dürfen», stammelte Ben Rothaar.
Hannah jedoch widersprach ihm tapfer: «Lieber sterbe ich hier auf dem weiten Meer, als noch eine Sekunde im Ghetto zu leben.»
Dann hörte sie auf, vor sich hin zu murmeln, sagte etwas von «Morgen geht das Abenteuer weiter. Oder auch nicht, wenn wir sterben» und schloss die Augen. Es dauerte keine Minute, da schnarchte sie laut.
Ich aber lag wach, war ich doch von ihrer kleinen Fabel zutiefst erschrocken: Meine kleine Schwester wollte lieber sterben, als im Ghetto zu leben.
Mir war nicht klar gewesen, wie sehr sie hier litt. Und ich gemeine Kuh machte ihr das Leben auch noch schwerer, weil ich ihr das Küssen verbot. Kein Wunder, dass ich die böse Gouvernante am Anfang der Geschichte war.
«Ich weiß, was du alles für uns tust, Mira.»
Ich erschrak. Meine Mutter begann auf einmal mit mir zu reden. Das tat sie doch sonst kaum. Und schon gar nicht nachts.
Hannah weckte sie damit allerdings nicht. Die schnarchte auf ihrer Matratze vor sich hin und träumte – hoffentlich nicht von ihrem Ben Rothaar. Und falls doch, hoffentlich nichts Unanständiges.
«Du denkst, ich weiß es nicht», redete Mama weiter, «aber ich weiß es ganz genau.»
Sie lag auf der Matratze neben mir und bemühte sich gar nicht erst zu flüstern. Sie wusste, war Hannah erst einmal eingeschlafen, konnten nicht mal die Gewehrschüsse der Deutschen sie wecken.
«Es ist ganz enorm», lobte mich Mama.
Erstaunlich: Jetzt hatte sie in diesen paar Sekunden schon mehr geredet als an manchen Tagen insgesamt.
Dank des Mondlichts erkannte ich, dass sie lächelte. Nicht auf diese abwesende Art, bei der ich immer wusste, dass sie sich an ein schönes Erlebnis mit Papa erinnerte. Nein, Mama lächelte ganz präsent. Ihr Lob freute mich sogar irgendwie, auch wenn es überraschend kam.
«Ist dir noch übel?», wollte sie wissen.
Verrückt, sonst fragte sie nie nach, wie es mir ging. Andererseits war ich ja auch noch nie mit einer genähten Fleischwunde am Arm nach Hause gekommen.
«Alles gut, alles gut», beschwichtigte ich.
«Hannah hat unrecht», sagte Mama.
«Womit?», fragte ich irritiert.
«Du bist ihre Mutter.»
«Was?»
«Du bist diejenige, die sich um sie kümmert und versucht, sie zu erziehen.»
Das stimmte allerdings.
«Du bist Hannahs Mutter», sagte Mama noch mal.
«Nein», wehrte ich ab, «das bist und bleibst du.»
«Ich bin das schon lange nicht mehr», erwiderte Mama traurig, «und das wissen wir beide.»
Ich widersprach ihr nicht mehr.
«Und dafür, dass du für Hannah eine bist, danke ich dir am meisten.»
Sie sollte mir nicht dafür danken. Sie sollte endlich wieder unsere Mutter sein, verdammt noch mal!
«Ich hätte dir auch mehr eine Mutter sein sollen.»
Ich seufzte. Es war zwar schön, dass sie das auch mal begriff, aber es ärgerte mich gerade. Es war schlicht und ergreifend der falsche Zeitpunkt für diese Art von Gespräch. Ich hatte andere Probleme. Ich musste unbedingt etwas Schlaf kriegen, um Energie für meinen Gang über die Mauer zu tanken.
Am liebsten hätte ich mich vor lauter Erschöpfung gleich für die nächsten Tage unter meiner Decke verkrochen. Aber Ascher rechnete mit mir, und wenn die Schmuggelaktion schiefging, weil ein Mann beziehungsweise eine Frau fehlte, würde ich dafür bitter bezahlen müssen. Und Ruth, die mich ihm empfohlen hatte, erst recht. Und wohl auch meine Familie, denn Ascher war ein großer Freund davon, Exempel zu statuieren, damit andere nicht auch auf die Idee kamen, seine Befehle zu missachten.
Ich steckte zu tief drin, um zu Hause zu bleiben.
Warum konnte ich nicht einfach mit meinen Liebsten in einem magischen Buch verschwinden? Oder, noch besser, mit Lord Peter Wimsey in England Kriminalfälle lösen?
«Ich liebe dich», sagte Mama.
Ich bemühte mich, nicht aufzustöhnen. So schön es vielleicht ein anderes Mal gewesen wäre, diese Worte nach all der Zeit wieder von ihr zu
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