28 Tage lang (German Edition)
Geschichte vom Mann aus Dornen, der seine große Liebe, die Magd Vera, niemals berühren konnte, weil er sie sonst verletzt hätte.
Die Scherben auf der Mauer konnte ich von hier aus zwar nicht erkennen, dennoch malte ich mir aus, wie sie meine Hände aufschlitzten. Allein die Vorstellung daran ließ mich mitten auf der Straße stehen bleiben. Wie sollte ich die Mauer nur mit meinem kaputten Arm erklimmen? Die Wunde war trotz Amos’ Desinfektionsmittel an einem der Nadeleinstichlöcher entzündet, und meine von den Fäden zusammengehaltene Haut war so gespannt, dass ich bei jeder ruckartigen Bewegung befürchtete, sie würde aufreißen. Ich hatte zwar meine Lederjacke angezogen, damit mein Arm wenigstens einen leichten Stoß aushalten konnte, aber ich fürchtete, dass sie nicht ausreichen würde, um die Wunde zu schützen.
Ich drückte mich in einen Hauseingang und beobachtete mit etwas Sicherheitsabstand die Straßenecke, die Ascher genannt hatte. Niemand war da. Ich beschloss zu warten.
Es wurde 4 : 30 Uhr. 4 : 35 Uhr. 4 : 40 Uhr. Immer noch war niemand zu sehen. Kein Schmuggler. Kein Judenpolizist. Niemand. Bald würde die Sonne aufgehen, und mein ohnehin schon lebensgefährlicher Mauergang würde endgültig selbstmörderisch werden.
Sollte ich lieber nach Hause gehen? Und mir Aschers Zorn zuziehen? Oder sollte ich an die Mauer gehen, um zu sehen, ob sich die anderen Schmuggler der Chompe-Bande, die ich hier treffen sollte, dort irgendwo im Schatten herumdrückten?
Es war keine echte Wahl. Würde ich abhauen, wäre nicht nur mein Leben von einem wütenden Ascher bedroht, sondern auch das von Ruth und meiner Familie. Ging ich jetzt an die Mauer, war es «lediglich» meines, das in Gefahr geriet.
Jetzt war ich nicht mehr wütend, dass ich mich in diese Lage gebracht hatte, sondern einfach nur verzweifelt.
Ich trat aus dem Hauseingang heraus und ging auf die Mauer zu. Mit jedem Schritt wirkte sie noch gewaltiger.
Als ich unter dem Stacheldraht die Scherben erkennen konnte, brannte die Entzündung an meiner Wunde, jedenfalls bildete ich mir das ein. Angstschweiß trat mir aus den Poren von Stirn und Nacken, doch ich zwang mich weiterzugehen und gelangte an die Straßenecke. Die Mauer war nun keine fünf Meter von mir entfernt. Immer noch war kein Mensch zu sehen. Was war hier nur los? Die Wachen waren weg, also waren sie bestochen worden. Wie lange würde es dauern, bis sie wiederkamen? Wir waren ja schon mehr als zehn Minuten über der Zeit. Aber vor allen Dingen: Wo waren die anderen Schmuggler? Wenn ich eine Aktion alleine über die Bühne bringen sollte, hätte mir Ascher doch genauere Instruktionen geben müssen.
Etwas war hier faul. Der Schweiß sammelte sich in meinem Nacken. Ich musste verschwinden. Ascher würde mir keinen Strick drehen können, wenn ich eine Aktion abbrach, die ganz offensichtlich schon schiefgelaufen war, bevor sie richtig angefangen hatte.
Ich beschloss, nach Hause zu rennen, und drehte mich gerade von der Mauer weg, da sah ich einige Meter weiter eine Leiter auf dem Boden liegen. Schwer zu sagen, ob jemand sie dort hingeworfen hatte oder ob sie extra hingelegt worden war. Womöglich sogar für mich, damit ich sie an die Mauer stellte, auf ihr hochkletterte und dann auf der anderen Seite auf polnische Helfer traf, die mir sagen würden, wie es weitergehen sollte. Aber auch das hätte Ascher mir doch vorher erzählen müssen. Oder etwa nicht? Was wusste ich schon über seine Schmuggeltechniken?
Wenn es tatsächlich so war, so kombinierte ich, dann sollte ich jedenfalls keine Lebensmittel ins Ghetto schmuggeln. Für Lebensmittel hätten hier Männer bereitstehen müssen, die die Sachen auf Karren luden. Vielleicht sollte ich über die Mauer klettern, um amerikanische Dollar in Empfang zu nehmen, die härteste Währung im Ghetto, in ganz Polen, bestimmt sogar auf der ganzen Welt.
Was immer auch meine Aufgabe war, ich würde nie Genaueres erfahren, wenn ich nicht die Leiter an die Mauer lehnen würde, um sie hochzuklettern.
Ich ging auf sie zu, stand unschlüssig davor, ich konnte es mir allerdings nicht mehr leisten, lange herumzustehen. Jede Sekunde konnte die Zeit ablaufen, die die Bande sich bei den Wachen erkauft hatte. Meine Hände zitterten und wurden erst ruhiger, als sie das raue Holz der Leiter berührten. Ich lehnte die Leiter an eine dunkle Stelle der Mauer, möglichst weit weg vom Lichtkegel der Straßenlaterne. Die Leiter reichte etwa zweieinhalb Meter hoch,
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