28 Tage lang (German Edition)
den fehlenden Meter würde ich mich also hochziehen müssen. Mit meinem kaputten Arm. Na, wunderbar. Wenigstens hatte der Nieselregen aufgehört. In so einer Situation war man für jede kleine Hilfe dankbar. Ich kletterte hoch. Sprosse für Sprosse. So schnell wie möglich. Wenn ich diesen Wahnsinn schon unternahm, dann wollte ich ihn möglichst schnell hinter mich bringen.
Auf der obersten Sprosse angekommen, hielt ich mich mit dem gesunden Arm am Griff der Leiter fest und hob den verletzten hoch, um die Scherben an der Stelle, an der ich mich auf die Mauer hochziehen wollte, zur Seite zu schieben. Die Wunde zog dabei höllisch, aber ich ignorierte den Schmerz, so gut es ging. Die Scherben waren groß, und ich musste nicht nur darauf achten, dass sie meine Hand nicht aufschlitzten – ich dumme Kuh hätte Handschuhe mitnehmen sollen –, ich musste auch aufpassen, dass die Scherben nicht zu Boden fielen.
Über dem Glas war der Stacheldraht. Mir fielen die Geschichten ein von Soldaten, die im Ersten Weltkrieg im Stacheldraht verendet waren. Würde ich mich unter dem Draht hindurchwinden können, wenn ich ihn vorsichtig hochhob? Und falls ja, wie würde ich auf der anderen Seite herunterkommen? Würde dort mein Kontakt – sollte es denn überhaupt einen geben – mir hastig eine andere Leiter hinstellen? Vielleicht sollte ich rufen, um herauszufinden, ob da jemand war. Nein, die Gefahr war zu groß, jemand anderes auf mich aufmerksam zu machen.
Vorsichtig hielt ich mich nun mit beiden Händen an der Mauer fest, schob meinen Kopf vorsichtig über die Kante, um die Lage zu sondieren. Zwischen den Scherben und dem Stacheldraht hindurch sah ich auf die polnische Seite und begriff, dass ich Vollidiotin die Lage völlig falsch interpretiert hatte: Es hatte doch Schmuggler gegeben, die ich auf unserer Seite der Mauer hätte treffen sollen. Doch die hatten die Leiter hingeworfen und waren verschwunden, nachdem sie gesehen hatten, was ich nun selbst sah: Von überall her näherten sich bewaffnete deutsche Soldaten. Leise. Geordnet. Flink. Effizient.
An vielen Stellen, so zum Beispiel keine zweihundert Meter von mir entfernt, schloss sich bereits die Kette der Umlagerung. Zu welchem Zweck die Deutschen das Ghetto umzingelten, wusste ich nicht, aber eins war klar: Ich wollte nicht eine Sekunde länger meinen Kopf als mögliche Zielscheibe hinhalten. So schnell ich konnte, kletterte ich die Leiter wieder hinunter, ließ sie einfach angelehnt stehen und rannte durch die leeren Straßen davon, während in meinem Rücken über der Mauer die Sonne aufging. Bis nach Hause würde ich es nicht unbemerkt schaffen. So versteckte ich mich hastig in einem Treppeneingang und schlief dort tatsächlich nach einer Weile völlig erschöpft ein.
Wenige Stunden später wachte ich durch den Lärm auf der Straße draußen wieder auf. Ich rappelte mich hoch – mein Arm tat immer noch höllisch weh – und machte mich auf den Weg. Sehr schnell begriff ich, warum das Ghetto von den Soldaten umstellt war. Überall hingen Plakate:
Bekanntmachung
Auf Befehl der deutschen Behörde werden alle jüdischen Personen, gleichgültig welchen Alters oder Geschlechts, die in Warschau wohnen, nach dem Osten umgesiedelt.
Ich las das und dachte nur eins: Chełmno.
15
Chełmno.
Chełmno.
Chełmno!
Vor meinem geistigen Auge malte ich mir Schreckliches aus: Wie Hannah, Mama, Daniel und ich mit vielen anderen in einen Lastwagen getrieben werden, begleitet von brüllenden Soldaten und kläffenden Schäferhunden. Wie die Tür verrammelt wird und wir alle zusammengepfercht beieinanderstehen. In der stickigen Enge haben wir kaum Luft zum Atmen, und unsere Augen brauchen lange, um sich an die Dunkelheit im Lastwagen zu gewöhnen. Ich spüre die anderen mehr, als dass ich sie sehe. Dafür höre ich ihren hektischen Atem und kann ihre Angst fast mit Händen greifen. Die meisten fragen sich, wohin wir gebracht werden. Und ich weiß, wir werden mit diesem Wagen nirgendwohin gebracht.
Wir hören, wie der Motor angeworfen wird. Aber der Wagen bewegt sich nicht von der Stelle. Wozu auch? Darum geht es ja nicht. Es geht um die Abgase. Und die werden in das Innere geleitet.
Erst sind die Menschen verblüfft. Die Schlaueren begreifen schnell, worum es geht. Und sie schreien: «Die bringen uns um! Die bringen uns um!»
Wir beginnen zu husten, Hannah ringt neben mir nach Luft, Mama krümmt sich vor Krämpfen. Ich selbst kämpfe dagegen an, mich zu übergeben.
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