28 Tage lang (German Edition)
Recht gewarnt: Wenn man schnell zu viel trank, bekam man Bauchschmerzen.
Viel mehr auf den Magen schlug mir jedoch die Tatsache, dass er bereit gewesen war, mich zu töten. Es war das erste Mal in meinem Leben gewesen, dass ein Mensch, der mir etwas bedeutete, mich so bedroht hatte.
Ja, Amos bedeutete mir etwas. Er hatte mein Leben gerettet, und sein Kuss …
… sein Kuss durfte mir nichts mehr bedeuten.
Amos durfte mir nichts mehr bedeuten.
Sollte er doch mit seiner Esther Masada spielen.
Fanatiker. Alles Idioten.
Amos hätte sicherlich auch gerne Czerniakow abgestochen. Für die Untergrundorganisationen – ach, was sag ich, für die meisten von uns – war der Vorsitzende des Judenrates ein Verräter, der für die Nazis alles tat und sich kein Stück für die Anliegen seines Volkes interessierte. Nur wenige sahen das anders, wie zum Beispiel Jurek, der, als ich einmal über den Judenratsvorsitzenden schlecht sprach, dagegengehalten hatte: «Ach, lasst mir doch alle den Czerniakow in Ruhe. Die arme Sau glaubt wirklich, das Beste für uns rauszuholen. Und dass es noch schlimmer kommt, wenn irgendein ganz anderer, korrupter Mann an seiner Stelle den Posten hat. Einer wie das Schwein im Ghetto von Lodz. Czerniakow lässt sich sogar von den Deutschen bespucken und verprügeln. Alles nur, weil er glaubt, das Richtige für uns zu tun.»
Ich erwiderte: «Der holt doch gar nichts für uns raus.»
«Er versucht es zumindest», war es von Jurek zurückgekommen, «das ist mehr, als die meisten von uns sagen können.»
Czerniakow drehte sich um und gab dem Orchester ein Zeichen. Die Musiker spielten ein fröhliches Lied, und ich fragte mich, ob der Judenrat ihnen wenigstens etwas Geld für diesen Auftritt zahlte oder ob sie einfach nur froh waren, mal wieder vor einem Publikum auftreten zu können, selbst wenn es außer Applaus dafür keinen Lohn gab.
Czerniakow rief den Kindern zu: «Ihr dürft jetzt spielen!», und die Kleinen rannten zu den schäbigen Spielgeräten. Mein Blick verweilte auf dem Vorsitzenden: Das Lächeln verließ sein Gesicht, das Elixier des Applauses konnte ihn nicht lange beleben. Czerniakow wirkte erschöpft. Vielleicht hatte Jurek doch recht, vielleicht tat er alles, was in seiner Macht stand. Vielleicht hatte er einfach nicht genug davon, um mehr zu errichten als einen kümmerlichen Spielplatz.
Doch egal, was für ein Mensch Czerniakow auch sein mochte, sein Auftritt machte mir eins noch klarer: Amos war ein Idiot. Wenn die Deutschen uns wirklich alle vernichten wollten, würde das der Vorsitzende des Judenrats doch wissen. Dann würde er jetzt bestimmt nicht noch einen Spielplatz eröffnen und dabei auch noch von der Zukunft der Kinder sprechen.
Czerniakow tätschelte sanft den Kopf eines kleinen dunkelhaarigen Mädchens, dessen Eltern ihm zur Feier der Spielplatzeröffnung ein hübsches grünes Kleid angezogen hatten, das spätestens in fünf Minuten ganz dreckig sein dürfte. Wer so lächelnd, wenn auch erschöpft, ein kleines Kind streichelte, der ging gewiss nicht davon aus, dass dieses Kind mitsamt dem ganzen Ghetto bald ausgelöscht werden würde. So schlecht konnte kein Jude sein. Eigentlich gar kein Mensch. Noch nicht mal ein Deutscher.
Ja, Amos war wirklich ein Idiot, wenn er glaubte, mehr zu wissen als der Vorsitzende des Judenrates. Es tat gut, Amos in Gedanken Idiot zu nennen. Idiot, Idiot, Idiot.
Kein Wunder, dass er von anderen, wie er selbst erzählt hatte, Arschloch genannt wurde.
Es war toll, ihn in Gedanken so zu nennen.
Arschloch. Arschloch. Arschloch!
Es würde noch toller sein, ihn endlich zu vergessen. Und seinetwegen kein schlechtes Gewissen mehr gegenüber Daniel zu haben. Dem Jungen, den ich liebte.
Da, ich hatte es gesagt: Ich liebte Daniel.
Oder zumindest hatte ich es gedacht.
Die Musiker und die Kinder schaukelten sich gegenseitig hoch; je schwungvoller das Orchester musizierte, desto lebendiger spielten die Kinder auf dem Spielplatz. Und umgekehrt, je mehr die Kinder tobten, desto fröhlicher spielten die Musiker auf.
Schade, dass Hannah schon zu groß für Spielplätze war. Ich hätte es schön gefunden, wenn sie an dieser ausgelassenen Freude hätte teilhaben können.
Ich ging nach Hause, und als ich vor der Miła-Straße 70 stand, traute ich meinen Augen kaum: Hannah saß auf der Treppe zum Haus und knutschte herum! Mit einem schlaksigen, blassen, rothaarigen Jungen, der bestimmt einen halben Kopf größer war als ich. Das musste dieser
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