28 Tage lang (German Edition)
erwiderte: «Man hat immer eine andere Wahl.»
«Die Züge», erwiderte Simon. «Das ist deine andere Wahl.»
Dem wusste ich nichts entgegenzusetzen. Und dennoch war ich nicht bereit einzuwilligen.
«Und was ist, wenn du deine Quote nicht erfüllst», fragte ich ihn, «und unser Versteck verrätst, damit du am Leben bleibst?»
In Simon stieg der Zorn hoch: «Das traust du mir zu?»
«Und noch viel mehr.»
«Das wird nicht geschehen!» Er war nun unfassbar aufgewühlt.
«Schwer zu glauben», schleuderte ich ihm entgegen.
«Das schwöre ich», sagte er nun mit bebender Stimme, und ich hatte den Eindruck, mit dem Schwur wollte er vor allem sich selbst überzeugen. Ich widersprach nicht mehr. Weil es keinen Sinn machte. Ich hatte nun mal wirklich keine andere Wahl. Für Simon bedeutete es jedoch, dass ich ihm nun vertraute. Er atmete durch und machte sich an die Arbeit, die Speisekammer herzurichten. Ich half ihm dabei. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass wir gemeinsam an einer Sache arbeiteten. Das letzte Mal hatten wir das getan, als wir für Mama zum vierzigsten Geburtstag ein Stück aufführten. Hannah hatte es im zarten Alter von zehn geschrieben und ihm den Titel gegeben: «Geschwister kann niemand trennen. Selbst wenn sie Idioten sind.»
Wenn das nur gestimmt hätte.
Während wir die Regale aus der Speisekammer herausbrachen, redeten wir kein Wort miteinander. Simon war viel zu entschlossen, anzupacken, irgendetwas Gutes zu tun. Und ich musste immer wieder an Daniel denken.
Ich hatte ihm das Leben gerettet. An diesen Gedanken klammerte ich mich. Der musste mir Halt geben. Hatte ich doch den Halt, den Daniel mir bisher gegeben hatte, für immer verloren. Ohne ihn hätte ich damals nach dem Selbstmord meines Vaters aufgegeben. Wie lange würde ich jetzt ohne Daniel durchhalten, bevor ich mich verloren gab? Mich für etwas Marmelade zum Zug bringen lassen würde? Wie lange würde meine Kraft noch reichen, wenn ich niemanden hatte, der mir was von der seinen abgab?
Wir brauchten ein paar Stunden, bis wir die Speisekammer präpariert, deren Tür und die Bretter zu Kleinholz verarbeitet und in den Keller gebracht sowie die Vitrine in die Küche geschoben hatten. Es war bereits Mitternacht, als das Werk vollendet war und Simon und ich das erste Mal wieder miteinander redeten.
«Wo kann ich heute Nacht schlafen?», fragte er mich. Auch für Judenpolizisten war es viel zu gefährlich, nachts im Ghetto herumzulaufen.
«Nimm meine Matratze», bot ich an, wollte ich doch nicht in dem Zimmer bleiben, das für Daniel und mich in den letzten Tagen eine Zuflucht gewesen war. Ich legte mich zu Mama. Die drehte mir im Schlaf den Rücken zu. Ich schloss die Augen und klammerte mich weiter ganz fest an den Gedanken, dass Daniel lebte, auch wenn ich ihn verloren hatte. Es gibt schwächeren Trost. Sehr viel schwächeren.
Wenige Stunden später weckte Simon uns. Es war noch dunkel. Natürlich. Wir gingen, mit etwas Essen und Trinken, in die Speisekammer und hockten uns auf den dreckigen Holzboden. Zum Liegen war es viel zu eng, daher mussten wir mit angewinkelten Knien sitzen. Simon schob die Vitrine vor den Eingang, und damit wir nicht in völliger Dunkelheit hockten, zündeten wir uns eine kleine Kerze an. Selbstverständlich würden wir sie beim kleinsten Anzeichen von fremden Personen in der Wohnung sofort wieder auspusten.
«Ich hol euch am Abend raus», hörten wir Simon sagen, «und bringe was zu essen mit.»
«Du bist ein guter Mensch», antwortete ihm Mama.
Ich musste höhnisch auflachen.
Weder Mama noch mein Bruder reagierten darauf.
Simons Schritte entfernten sich, während Hannah seufzte: «Das ist jetzt also unser neues Zuhause. Mufft ganz schön hier drin.»
Das Kerzenlicht erhellte ihr trauriges Gesicht, der Rest unseres «neuen Zuhauses» lag im Dunkeln.
«Ich werde das Tageslicht vermissen.»
Gerne hätte ich Hannah getröstet, ihr die Zeit in der Enge und Dunkelheit erträglicher gemacht, aber ich konnte es nicht. Mir fehlte die Kraft dazu.
Dafür war es Hannah, die mir in den folgenden Wochen half, nicht durchzudrehen. Während die Welt draußen im Ghetto immer schrecklicher wurde – Simon berichtete uns bei seinen abendlichen Besuchen, dass niemand mehr sicher war, weder die Menschen in den Werkstätten noch die Judenratsmitglieder –, entführte uns Hannah in die Welt der 777 Inseln. Eigentlich entführte sie nur mich dorthin. Mama zog sich zurück in ihre eigene innere Welt, zu
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