28 Tage lang (German Edition)
Erlebnisse viel zu schrecklich gewesen waren, um mir zu antworten. Sie setzte sich zu Boden und lehnte sich an eine Wand, ich setzte mich neben sie. Ruth hustete und hustete. Aber es klang bei genauerem Hinhören nicht nach einem Krankheitshusten. Es war eher so, als ob sie etwas aus ihrem Körper herausschleudern wollte – keine Krankheit, sondern etwas viel Schrecklicheres, was sie einfach nicht loswerden konnte.
Nachdem sie sich wieder etwas beruhigt hatte, sagte Ruth leise: «Lulei …»
«Was?», fragte ich erstaunt.
Als Antwort sang sie ein Wiegenlied.
Ein schreckliches Wiegenlied.
Lulei, lulei, du mein Sohn …
Lulei, lulei, du mein Sohn …
«Was soll das?», fragte ich Ruth in der Hoffnung, dass der Gesang einen Sinn hatte.
Glühendes, zischendes Feuerrost,
Höllentor, Leichenstoß …
Hatte sie den Verstand verloren? Na wunderbar, dann wäre sie mit Mama schon die Zweite in dieser Wohnung.
Hier liegt mein Sohn, mein kleiner Sohn,
die Fäustchen in den Mund gebissen,
wie kann ich dich ins Feuer werfen,
deine schönen goldenen Haare …
Es klang definitiv verrückt. Was wäre, wenn sie auch singen würde, wenn die Deutschen nach uns suchten? Durfte ich überhaupt das Risiko auf mich nehmen, sie bei uns zu verstecken? Oder sollte ich sie doch lieber gleich fortschicken? Egal, ob Ruth dann starb oder nicht? Durfte ich so etwas überhaupt denken?
Deine stillen Augen schaun zum Himmel
und erstarrte Tränen schreien …
Ich konnte dieses kranke Wiegenlied nicht mehr ertragen und bat sie: «Hör bitte auf zu singen.»
Sohn. Überall und überall dein Blut!
Und du lebtest noch – nur drei kurze Jahre …
«Bitte.»
Lulei, lulei, du mein Sohn
Du-u-u mein Sohn …
«Hör endlich auf!», schrie ich sie an.
Ruth erschrak und verstummte.
Ich atmete durch, dann fragte ich sie: «Was zum Teufel soll der Mist?»
«Das Lied hab ich in Treblinka gehört.»
«Treblinka?»
Als Antwort hustete Ruth wieder.
Es dauerte, bis sie sich wieder beruhigt hatte und zu erzählen begann: Bereits am zweiten Tag der Aktion war sie in eine Blockade geraten und in einen der Viehwaggons verfrachtet worden. Während der Fahrt waren schon viele Menschen erstickt, und sie selbst musste vor lauter Schwäche auf den Leichen, die den ganzen Boden des Wagens bedeckten, schlafen.
Es klang so furchtbar, als wäre es ausgedacht.
«Schließlich erreichten wir das Lager von Treblinka …»
«Ein Arbeitslager?», fragte ich.
Ruth lachte. Auf eine schreckliche Weise. Und dann begann sie wieder zu husten.
«Was für ein Lager ist es dann?», fragte ich, obwohl ich Angst vor der Antwort hatte.
«Die Menschen müssen sich ausziehen, wenn sie ankommen. Wer nicht schnell genug ist, wird ausgepeitscht. Und dann geht man nackt vorbei an den Bergen von Leichen. Tausenden von stinkenden Leichen. Mit aufgedunsenen Körpern. Die schaffen es nicht, die Toten so schnell zu verbrennen oder in den Gruben zu verscharren, wie sie die Menschen vergasen.»
Ich verstand nicht ganz: Die Deutschen konnten doch nicht Zehntausende Menschen in Lastern vergasen.
«Sie treiben alle nackt in die Gaskammern …»
Kammern? Sie hatten Kammern zum Vergasen gebaut?
«Nachher verbrennen sie so viele Leichen wie es geht auf Rosten, und den Rest verscharren sie in Gruben. Man sieht den Rauch der Verbrannten in den Wind steigen, und man atmet den Rauch ein … Mira, man atmet die Toten ein … atmet die Toten!»
Ruth hustete wieder.
Und ich begriff: Sie hustete, weil sie immer noch glaubte die Asche der Verbrannten in den Lungen zu haben.
Sie wollte die Asche aus ihrem Körper herausschleudern, aber das ging nicht, egal wie sehr sie auch keuchte und hustete. Die Toten waren ja nicht in ihren Lungen, sondern in ihrem Kopf. Für immer. Unter diesen Toten waren auch Korczak und die Kinder. Ich hatte Daniel vor diesem Schicksal bewahrt. Er hätte mir doch dankbar sein müssen, anstatt mich zu verachten.
«Das Schlaflied», berichtete Ruth weiter, «hat ein Uhrmacher gesungen. Für seinen kleinen Sohn.»
Die Deutschen verbrannten Kinder. Sie waren noch größere Monster als gedacht. Sie mussten Dämonen sein, die der Hölle entstiegen waren. Als Eroberer, die die ganze Erde nach und nach ebenfalls in eine Hölle verwandeln wollten.
«Wie … wie hast du überlebt?», fragte ich.
«Ich hatte Glück. Kaum eine Frau überlebt die ersten vierundzwanzig Stunden in Treblinka. Die stärksten Männer werden zu Arbeiten herangezogen. Leichen
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