28 Tage lang (German Edition)
den Erinnerungen an Papa. Von Tag zu Tag existierten wir weniger für sie, und nach fünf Tagen in der dunklen Kammer hatte sie endgültig aufgehört zu reden.
Es gab Momente, in denen ich sie beneidete: Es wäre gewiss schöner gewesen, ausschließlich in der Erinnerung an Daniel zu leben, anstatt mir bewusst zu sein, dass ich in einem Versteck saß, das jeden Augenblick von der SS entdeckt werden könnte.
In Hannahs Welt der 777 Inseln spielten sich die wildesten Abenteuer ab: Gemeinsam mit ihrem geliebten Ben Rothaar und Kapitän Karotte machte sie sich auf die Jagd nach den drei magischen Spiegeln, mit denen man den bösen Spiegelmeister besiegen konnte, der bereits 333 der 777 Inseln unterdrückte. Seine Gegner behandelte der Spiegelmeister grausam. Er verbannte sie in Zerrspiegel, in denen sie als entstellte Spiegelbilder auf ewig weiterleben mussten. Auch Unschuldige traf dieses Schicksal: Ob kleine Kinder, lebendige Lampions oder singende Eichhörnchen – auf niemanden nahm der Tyrann Rücksicht.
Bei all dem berichtete Hannah so lebendig von der Schönheit der 777 Inseln – das Meer war so weit, die Sonnenuntergänge so ewig, die Blumen so farbenfroh –, dass ich mir wünschte, dort leben zu können. Warum war diese Welt nicht real und unsere echte irreal? Warum war das Ghetto nicht einfach erfunden worden von einem Geschichtenerzähler, der auf einer der Inseln lebte und seinen Stammesmitgliedern am Lagerfeuer vom Ghetto erzählte, damit sie vor dem Einschlafen eine gruselige Schauergeschichte hörten? Dann könnte uns der Erzähler ein glückliches Ende dichten, und wir würden nach all dem Leid glücklich bis ans Ende leben können.
Oder vielleicht waren wir ja doch erfunden, und unser Erzähler war einfach nur ein Arschloch.
Als Hannahs Helden auf der Insel der Furcht die Vogelscheuche des Grauens trafen, um ihr den ersten magischen Spiegel zu entwenden, nahm die Vogelscheuche ihr furchtbares Stroh-Amulett in die Hand. Dieses Amulett war in der Lage, jedem Wesen seine größte Angst zu zeigen, und wer sie vor dem eigenen inneren Auge sah, ging in der Regel daran zugrunde.
Kapitän Karotte sah, dass sein geliebtes Schiff – die
Langohr
– in den Wellen versank. Der Werwolf sah, wie ihm die Zähne ausfielen. Auch Hannah und Ben Rothaar wurden mit ihrer größten Furcht konfrontiert: Hannah sah, dass Ben Rothaar sterben würde. Und Ben Rothaar, dass Hannah sterben würde. In diesem Moment begriffen die beiden, wie nah Liebe und Angst beieinanderlagen.
Jedoch waren sie die ersten Wesen, die sich der Kraft des Stroh-Amuletts widersetzen konnten. Denn es gab etwas, mit dem die Vogelscheuche nicht gerechnet hatte: Die Liebe der beiden war größer als jede Furcht.
25
Eines Mittags – oder war es bereits nachmittags, man verlor in der Kammer jegliches Gefühl für die Zeit – hörte ich ein leises Husten.
«Kapitän Karotte zog sein Schwert», erzählte Hannah gerade, da hörte ich das Husten erneut. Etwas lauter.
«… und das klapprige Skelett rief …»
«Shh», zischte ich meiner Schwester zu. Doch Hannah war so in Fahrt, dass sie weiterquatschte: «Verrotte, Kapitän Karotte!»
«Shh!», zischte ich noch eindringlicher und pustete die Kerze aus. Das brachte sie schlagartig zum Schweigen. Wir beide lauschten gebannt. Ob Mama auch lauschte?
Hoffentlich war es wieder nur ein Fehlalarm. Bestimmt war es einer. Wie so oft.
In den Tagen zuvor hatten wir schon so einige davon. Mal dachten wir, Türen wären aufgegangen, mal, dass Leute durch die Wohnung schlichen. Das Türenschlagen hatte aber seine Ursache darin, dass wir über Nacht ein Fenster zum Lüften aufgelassen hatten und der Luftzug die Türen leicht bewegt hatte. Die anderen Geräusche hatten vermutlich von Mäusen gestammt.
Wieder ein Husten.
Die Tür zur Küche wurde geöffnet.
Ich hörte mein Herz klopfen. Ich bildete mir ein, sogar das Herz von Hannah zu hören. Für einen Augenblick hatte ich Angst, dass wer immer da draußen auch war, unsere Herzen ebenfalls hören konnte, durch unseren Brustkorb und die schwere Vitrine hindurch.
Die Schritte kamen näher. Aber sie klangen nicht nach Stiefeln. Hoffentlich war es nur ein Obdachloser, der nach etwas Essbarem suchte und dann wieder verschwand.
Würde uns so ein Obdachloser verraten, wenn er uns entdeckte?
Bestimmt nicht, das wäre verrückt, er würde dann ja auch von den Deutschen in den Tod geschickt. Es sei denn natürlich, ihm wäre mittlerweile alles
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