28 Tage lang (German Edition)
egal und er würde uns für ein Stück Brot mehr, das er auf dem Weg zum Umschlagplatz verschlingen konnte, ans Messer liefern.
Das Husten kam näher.
Es klang allerdings nicht nach dem eines alten Menschen, vielleicht war es ein junger Mann oder eine junge Frau. Jedenfalls war die Person krank. Ob es Daniel war? Ich versuchte mich an das Husten von Daniel zu erinnern. Hatte es geklungen wie jenes in der Küche?
Nein. Das hier hörte sich völlig anders an. Es war auch verrückt zu glauben, Daniel könnte seine Meinung mir gegenüber geändert haben und nach mir suchen.
Wer immer es auch war, er oder sie schien direkt vor der Vitrine stehen zu bleiben. Wusste dieser Mensch, dass wir uns dahinter versteckten? Und falls ja, warum machte er keine Anstalten, die Vitrine wegzuschieben? Würde er erst die Deutschen holen?
Weder Hannah noch ich trauten uns zu atmen. Nur Mama atmete regelmäßig ein und aus. Ein und aus. Sie hatte nicht mal Notiz davon genommen, dass die Kerze erloschen war und wir im Dunkeln saßen. Am liebsten hätte ich ihr das Atmen verboten.
«Mira», hörte ich es draußen kläglich rufen.
Ich konnte es nicht glauben. Die Frau – es war definitiv eine weibliche Stimme – kannte mich.
«Mira, bist du hier?»
Wenn sie mich kannte, musste ich sie doch auch kennen.
Sie hörte auf zu rufen. Die Vitrine wackelte. Waren wir entdeckt? Wurde die Vitrine von der Frau beiseitegeschoben?
Wir hörten, wie sie sich auf den Boden setzte. Sie hatte sich wohl davor mit dem Rücken an die Vitrine gelehnt und war an ihr runtergerutscht. Deswegen hatte die Vitrine auch gewackelt.
Die Frau blieb sitzen. Sie hustete, sagte aber nichts. In meinen Gedanken hörte ich aber noch den Klang ihrer Worte: «Mira, bist du hier?» Und mit einem Mal wusste ich, wem diese Stimme gehörte, wer da auf der anderen Seite angelehnt an der Vitrine auf dem Boden saß.
Ich stand auf. Hannah atmete erschrocken ein, sagte aber nichts, bis ich mich daranmachte, die schwere Vitrine vom Eingang der Kammer zu schieben. Die Kleine flüsterte: «Was machst du da?», aber das hier war nicht der Moment, «Wonach sieht es denn aus?» zu erwidern.
Mit all meiner Kraft schob ich die Vitrine so vom Eingang weg, dass ich mich an ihr vorbei in die Küche zwängen konnte. Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich mich an das Tageslicht gewöhnte, hatte ich es doch seit zwei Wochen nicht mehr gesehen, nur das Licht von Mond und Sternen, wenn wir nachts unser Versteck verließen. Schließlich erkannte ich vor mir die Frau, die ich erwartet hatte: Ruth.
Sie war schwer abgemagert, ihre Haare waren kahl geschoren und ihre Kleidung zerlumpt. Der Kontrast zu ihrer Aufmachung im Britannia-Hotel hätte nicht größer sein können.
Ich rief Hannah zu: «Alles ist in Ordnung. Du kannst ruhig rauskommen.»
Meine kleine Schwester krabbelte vorsichtig aus der Kammer, und auch sie brauchte etwas, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnten. Sie sah Ruth an, war von deren abgemagertem Anblick erschrocken, sagte aber nichts.
Ruth rappelte sich hingegen langsam vom Boden auf und fragte: «Habt ihr etwas zu essen?»
Ich holte ihr sofort ein Stück Brot aus der Kammer, in der meine Mutter immer noch hockte.
Hannah fragte mich leise: «Was ist, wenn jetzt die Deutschen kommen?»
«Dann geht ihr in die Kammer, ich schieb die Vitrine vor, und die nehmen nur mich mit.»
Diese Aussicht begeisterte Hannah nicht. Aber es war das Beste, was ich ihr für so einen Fall anbieten konnte.
Ruth verschlang das Brot, so schnell, dass sie beinahe daran erstickte. Sie musste husten, verschluckte sich und spuckte etwas Brotbrei auf den Küchenboden. Hastig wischte ich ihn auf. Wenn Deutsche kommen sollten, sollten uns nicht Essensreste verraten.
Ich gab Ruth zu trinken, während Hannah zu unserer Mutter ging, die einfach in der Kammer sitzen geblieben war, und ihr auf die Beine half. Auch Mama sollte das Tageslicht sehen, selbst wenn sie auf nichts mehr so richtig reagierte. Hannah wollte Mama zum Fenster führen, doch ich warnte sie aufzupassen: Man durfte uns nicht von der Straße aus entdecken. So blieben die beiden in der Mitte der Küche stehen. Hannah sah in die Sonne, die für sie nicht mehr selbstverständlich war, während Mama lieber auf den Boden starrte.
Währenddessen zog ich Ruth ins Nachbarzimmer. Ich wollte wissen, was mit ihr geschehen war, und vermeiden, dass Hannah es hörte. Nachdem ich Ruth gefragt hatte, blieb sie still. Ich vermutete, dass ihre
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