28 Tage lang (German Edition)
dass wir wussten, dass sie ihre selbst aufgestellten Regeln ständig willkürlich brachen und eine von ihnen herausgegebene Marke noch lange keine Sicherheit bedeutete.
Auf den Bürgersteigen standen Letten, Ukrainer, Deutsche. Ab und an schlugen sie mit Knüppeln oder Peitschen auf Leute ein. Sie mussten nicht befürchten, dass sich irgendwer in dieser schrecklichen Prozession wehren würde, dafür waren all die Menschen, die sich hier versammelt hatten, viel zu verstört. Von den Toren her hörte ich einen Mann schreien: «Ich will nicht arbeiten! Ich hab gesagt, ich will nicht arbeiten!»
Das überraschte mich. Dieser Mann wollte freiwillig in die Züge?
«Ich gehe mit meinen Kindern!»
Dann hörte ich ihn nicht mehr. Vermutlich wurde ihm sein Wunsch erfüllt. Für die Nazis war er eben noch ein weiterer Jude, der vergast wurde. Mit seinen Kindern. Was soll’s?
Neben mir im Menschenkessel ging eine Frau und trug ein schlafendes Baby im Arm. Ich erkannte, dass sie eine der wertvollen Marken um den Hals trug, ihr Leben könnte gerettet werden. Das des Babys aber nicht. Die Frau merkte, dass ich sie anstarrte. Natürlich hatte auch sie den Mann gehört, der mit seinen Kindern ins Gas ging. Leise sagte sie zu mir: «Man kann immer ein neues Kind bekommen.»
Ich verstand erst nicht.
«Doch wenn ich mit dem Kind sterbe, kann ich kein neues Leben zur Welt bringen.»
Sie war bereit, sich von ihrem Baby zu trennen. Und sie hatte sich dafür Argumente zurechtgelegt. Argumente, die nach Leben und nicht nach Tod klangen.
Mir wurde schlecht.
Ich sah von ihr weg und blickte mich um, ob irgendwo Hannah, Mama oder Ruth in dem Menschenkessel zu sehen waren. Ich konnte sie nirgends entdecken. Gut. So konnte ich meine Hoffnung aufrecht halten, dass sie im Gegensatz zu mir überleben könnten. Irgendwie.
Nach meinem Bruder sah ich mich allerdings nicht um. Bestimmt war er bereits auf dem Weg zum Umschlagplatz. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Nazis jemanden ohne Marke am Leben lassen würden. Nur wenn es darum ging, Juden umzubringen, hielten sie sich an die von ihnen selbst aufgestellten Regeln.
Nach vielleicht zwei Stunden in diesem Kessel erreichte ich die Selektion. Als ich vor den SS -Mann trat, war ich nicht nervös, noch nicht mal ängstlich. Wie er entscheiden würde, wusste ich doch schon. Ich war ohne Hoffnung, fühlte mich benommen und bleischwer. Ich sah dem SS -Mann noch nicht mal ins Gesicht. Stumm bedeutete er mir mit einer kleinen Handbewegung, durch das Tor zu gehen, das den Tod bedeutete.
Während ich hindurchschlich, war die Frau, die ihr Kind abgeben wollte, an der Reihe. Der SS -Mann sah ihre Marke, sie durfte zu den Lebenden. Ohne etwas zu sagen, drückte sie mir ihr schlafendes Baby in die Arme. Ich sollte es statt ihrer in den Tod begleiten.
Bevor ich überhaupt Worte finden konnte, war sie bereits durch das andere Tor verschwunden. Ich hatte die Wahl: Mit einem fremden kleinen Kind in die Züge gehen, in den letzten Stunden seines Lebens für es da sein, egal wie schwer es mir fiel. Oder es einfach zu Boden legen, wo die Soldaten es erschießen oder gar mit ihren Stiefeln zertrampeln würden.
Was für ein Mensch will man sein?
31
Mit tausend anderen ging ich zum Umschlagplatz, das Baby in meinen Armen. Den albernen Koffer hatte ich längst abgestellt, in ihm war auch nichts, was mir oder dem Baby nützlich gewesen wäre. Was braucht man schon in der Gaskammer?
Das Kleine schlief in meinen Armen, es hatte noch gar nicht bemerkt, dass seine Mutter es weggegeben hatte. Wie konnte diese Frau nur mit ihrer Entscheidung leben? Würde sie wirklich, für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie den Krieg überlebte, neue Kinder in die Welt setzen? Würden die dann ein Trost sein dafür, dass sie ihr Erstgeborenes ins Gas geschickt hatte?
Lulei, Lulei …
Das Lied würde ich dem Baby bestimmt nicht vorsingen.
Während ich mir über die Frau Gedanken machte, wurde mir klar: Ich selbst würde nie Mutter werden. Nicht dass ich das bisher gewollt hätte, ich war ja jung. Doch außer diesem Baby, das ich in den Tod begleitete, würde ich nie eines in den Armen halten. Keine eigenes herzen.
War dies das Schlimmste am Sterben: keine Zukunft zu haben?
Als wir den Umschlagplatz erreichten, drückte ich das Baby fest an mich. Der Platz befand sich an dem äußersten Ende des Ghettos und war von einer hohen Mauer umgeben. Nur an einer Stelle gab es einen kleinen Eingang, und durch den wurden
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