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28 Tage lang (German Edition)

28 Tage lang (German Edition)

Titel: 28 Tage lang (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Safier
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aufrichtig meinte, schließlich wäre ich jetzt auf dem Weg ins Lager, wenn er seinen Freund gefunden hätte. Außerdem war mir viel zu elend zumute, um echtes Mitgefühl zu empfinden. Ich hatte das Baby im Stich gelassen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich echte Schuld auf mich geladen. Eine, die ich nie wieder loswurde.
    Wir beide gingen schweigend durch die Straßen, bis Amos sagte: «Du schließt dich uns jetzt also an?» Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.
    Auch wenn ich in unserer dunklen Kammer davon phantasiert hatte, mit der Hashomer Hatzair und ganz besonders mit Amos der Welt zu zeigen, dass wir Juden kein wehrloses Schlachtvieh waren, sah die Realität doch anders aus: Auf dem Umschlagplatz waren wir alle wehrloses Schlachtvieh gewesen. Auch ich. Ich war keine Kämpferin. Und ich wollte auch keine sein, denn ich hatte Hannah und Mama.
    Weil ich nicht antwortete, wurde Amos wütend: «Wir haben viel Geld für dich bezahlt!»
    «Damit hast du auch mein Leben gekauft?», gab ich zurück.
    Amos realisierte, dass er zu weit gegangen war, und schwieg wieder. Erst nach einer Weile erklärte er ruhiger: «Es ist unsere heilige Aufgabe, uns an den Deutschen zu rächen.» Seine Augen funkelten dabei vor Entschlossenheit und Hass.
    Ich aber spürte in mir weder eine solche Entschlossenheit noch einen solchen Hass. Ich konnte keine Menschen töten. Noch nicht mal Deutsche. «Es ist meine heilige Aufgabe, mich um meine Familie zu kümmern», erwiderte ich.
    Amos sah von mir weg. Dieser Mann hatte mir zweimal das Leben gerettet, und so zahlte ich es ihm zurück.
    «Es … es tut mir leid», sagte ich, kaum hörbar.
    Als Antwort ließ er mich mitten auf der Straße stehen.

33
    Ich betrat unsere Küche.
    Die Vitrine war umgestoßen worden.
    Und in der Speisekammer lagen sie:
    Ruth.
    Mama.
    Hannah.
    Zusammengesackt.
    In ihrem eigenen Blut.

34
    Ich schrie auf wie ein verletztes Tier. Ich schrie, bis ich weinte. Das Weinen ging irgendwann über in ein Wimmern. Nachdem ich damit fertig war, starrte ich die ganze Nacht auf die Leichen.
    Und dann kam der Hass.
    Ich hasste so sehr, dass ich töten wollte.
    Mich.

35
    Ich war nicht bei ihnen gewesen, ich war nicht bei ihnen gewesen, nicht bei ihnen. Ich hätte mit ihnen sterben sollen. Müssen.
    Ich ging zum Fenster. Es war mittlerweile dunkel geworden, und im Ghetto brannten keine Laternen mehr. Für wen auch? Das Glas im Fenster war an einer Stelle leicht gesprungen. Ich stellte mir vor, wie ich es zerschlug, aus den Scherben eine möglichst große auswählte und mir damit meine Pulsadern aufschlitzte, wie ich anschließend zu den Leichen in der Speisekammer ging, mich zu ihnen legte, den leblosen Körper von Hannah in die Arme nahm und langsam neben ihr verblutete.
    Bei ihr zu sein, erschien mir richtig.
    Ich sah mich nach einem Gegenstand um, mit dem ich das Fensterglas zertrümmern konnte. Vielleicht den alten Topf, der in der umgestürzten Vitrine lag, oder doch lieber die lose Türklinke der Küchentür? Ich müsste sie nur aus ihrer Halterung lösen. Natürlich könnte ich auch einfach meinen Ellenbogen nehmen. Wenn ich mir schon die Pulsadern aufschlitzen wollte, wäre es ohnehin egal, wenn ich mir vorher den Ellenbogen am Glas schnitt.
    Ich holte aus, schlug mit dem Ellenbogen gegen die Scheibe, aber sie zersprang nicht. Ich schlug noch mal, etwas kräftiger, aber sie ging einfach nicht kaputt. Nur mein Ellenbogen schmerzte von dem Stoß. Ich ging zur Vitrine, nahm den Topf heraus, ging zurück zum Fenster und hämmerte ihn mit voller Kraft gegen das Glas. Die Scheibe zerbarst, aber die Scherben flogen auf die Straße. Das hätte ich mir auch vorher denken können. Beim Aufprall klirrten sie nicht allzu sehr, aber in den leeren Straßen hallte es dennoch laut nach.
    Wenn Deutsche das gehört hatten, würden sie kommen, die Scherben entdecken, zu dem kaputten Fenster hochschauen, die Wohnung stürmen und mich erschießen.
    Sollten sie doch.
    Das würde sogar noch schneller gehen als das Verbluten. Ich würde mich zu Hannah in die Speisekammer setzen, mich hinrichten lassen, und so würde ich sterben, wie ich es bereits hätte tun sollen.
    Es kamen aber keine Deutschen.
    Ich brach eine weitere, größere Scherbe aus dem Glas. Dabei schlitzte ich mir meine Handfläche auf. Für eine Sekunde dachte ich nicht an die tote Hannah oder daran, dass ich mich umbringen wollte, sondern führte nur reflexhaft die Hand zu meinem Mund und saugte an ihr. Das Blut

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