28 Tage lang (German Edition)
wir alle getrieben, gequetscht, geprügelt.
Der Platz war völlig überfüllt. Überall saßen verzweifelte Menschen neben ihren Habseligkeiten. Sie hockten in Urin und Kot. Falls es hier Toilettenanlagen gab, waren sie bei weitem nicht ausreichend für diese Menschenmassen. Der Gestank, der in der Luft lag, war beißend. Am liebsten hätte ich mir ein Tuch vor das Gesicht gehalten, doch ich hatte keines dabei.
Kaum jemand hier besaß die Kraft, einem anderen Trost zu spenden. Kinder weinten neben ihren Eltern, Paare saßen apathisch nebeneinander. Überall lagen Tote. Menschen, die sich mit Messern oder Rasierklingen die Adern aufgeschlitzt hatten.
Diesen Umschlagplatz hätte man als Hölle bezeichnen können. Aber es war nur eine Vorhölle. Die Vorhölle der Lager.
Die Menschenmasse drückte mich in die Mitte des Platzes. Das Baby in meinen Armen wachte auf und begann leicht vor sich hinzuquaken. Hoffentlich hatte es keinen Hunger.
Ich begann es leicht zu schaukeln: «Shh, alles gut … alles gut …»
Das war natürlich lächerlich. Korczak hätte dem Kleinen gewiss gesagt: «Du kommst bald in eine bessere Welt …», aber das brachte ich nicht über die Lippen. Ich glaubte nicht mehr an Gott. Wie auch? Es würde für das Baby und mich und all die anderen hier nach dem Tod nur das Nichts geben. Und vorher Prügel, Terror, Gas.
Es wäre besser gewesen, wenn die Ukrainer mich erschossen hätten. Und wenn ich das Baby am Tor hätte töten lassen. Das Kleine beruhigte sich wieder und schlief ein. Ein kleines Wunder in der Hölle. Ich konzentrierte mich auf den Atem des Babys. Ich hoffte, er könnte mich von meiner Angst ablenken. Ich versuchte meinen Atem dem des Kleinen anzupassen. War es eigentlich ein Junge oder ein Mädchen? Ich traute mich nicht nachzusehen, hatte Angst, es zu wecken. Aber ich nahm mir vor, dem Baby noch einen Namen zu geben, bevor wir starben. Wie würde ich es nennen, wenn es ein Junge wäre?
Daniel?
Amos?
Kapitän Karotte?
Ich musste hysterisch lachen, als mir dieser Name einfiel. Gleichzeitig liefen mir die Tränen über die Wangen. Hannah würde ich nie mehr wieder sehen.
Ich entdeckte eine Ärztin im Kittel, die erschöpften Kindern zu trinken gab. Sie selbst hatte einen fiebrigen, gehetzten Blick. Erst dachte ich mir nichts dabei, aber als ich nach einer kurzen Zeit zu den Kindern sah – meine Tränen wegen Hannah waren nun getrocknet, und ich hatte mich ein klein wenig besser im Griff –, erkannte ich, dass die Ärztin nicht einfach nur barmherzig Wasser verabreichte: Die Kleinen lagen leblos am Boden, eins sogar in einer Pfütze von Urin. Es war Gift, das sie den Kindern gab, gewiss Zyankali.
Die Ärztin hatte sie sanft entschlafen lassen und ihnen damit die Qual von Treblinka erspart. Diese Frau war noch barmherziger gewesen als gedacht.
Falls ich sie noch mal sehen sollte, würde ich sie um Zyankali bitten. Für das Kleine. Und für mich.
Ich drängelte mich mit Amos – ja, ich hatte mich entschlossen, das Baby erst mal Amos zu nennen, und falls es doch ein Mädchen sein sollte, würde sie halt Ama heißen – an den Rand des Platzes. Ich konzentrierte mich wieder auf den Atem des Babys und blendete dadurch das Leid um mich herum so gut wie möglich aus.
Ich erreichte die Mauer, fand dort ein kleines Fleckchen auf dem Boden und setzte mich erschöpft hin, obwohl direkt neben mir Exkremente lagen. Die Nachmittagssonne schien wie zum Hohn freundlich auf uns herab.
Das Baby begann wieder zu quäken. Egal wie sehr ich es auch schaukelte, das Kleine war einfach nicht zu beruhigen. Es hatte begriffen, dass ich nicht seine Mama war. Und es hatte sicherlich auch Hunger.
Neben mir saß ein Mann mit eingefallenem Gesicht, bestimmt keine dreißig Jahre alt. Er saß in einer Urinpfütze und schnauzte mich an: «Entweder du bringst das Balg zum Schweigen, oder ich knall es gegen die Wand!»
Er meinte es ernst.
Ich stand auf und ging. Dabei steckte ich dem Baby meinen kleinen Finger in den Mund, was es für eine gewisse Zeit beruhigte, bis es merkte, dass dieser Finger nicht Mamas Brust war und es wieder zu quäken begann. Und es stank. Ich hätte ihm die Windel wechseln müssen und es säubern, nur mit was für einer Windel und mit welchem Wasser?
Das Geschrei zerrte an meinen Nerven, und es öffnete mich wieder für all die anderen Geräusche rund um mich, da ich mich nicht mehr auf den Babyatem konzentrieren konnte. Ich hörte schreckliches Wehklagen: «Durst,
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