28 Tage lang (German Edition)
das, was der SS -Mann mir angetan hatte? Für das, was das fette Schwein wohl in dieser Wachstube vielen anderen Mädchen vor mir angetan hatte? Für all die Menschen, die der Offizier selbst umgebracht hatte? Oder dachte er mehr an seine Tochter, bei der er nicht sein konnte, und entschuldigte sich indirekt bei ihr, weil er seinen Nachkommen so viel Schuld aufgeladen hatte, dass noch Generationen damit beschäftigt sein würden?
Von mir konnte er jedenfalls keine Beruhigung seines Gewissens erwarten. Auch wenn er mich gerettet hatte. Selbst wenn er mich hundertmal gerettet hätte. Sie hatten Hannah getötet. Ich schwieg. Er auch. Bis er begriff, dass er von mir keine Absolution bekam, und noch mal, diesmal leiser, sagte: «Geh.»
Ich drehte mich wieder um, drückte die Klinke herunter und ging zur Tür hinaus ins Freie, vorbei an den SS -Männern und an dem fetten Schwein, das mich wütend ansah und von dem ich schnell wegblickte. Ich hatte immer noch Angst vor ihm und schämte mich dafür. Noch mehr schämte ich mich, dass er mich dazu gebracht hatte, um Gnade zu winseln. Diese Scham machte mich so wütend, dass ich ihn am liebsten umgebracht hätte. Oder mich selber.
Ich trat zu dem Arbeitstrupp, der auf mich hatte warten müssen. Amos war sichtlich erleichtert, mich zu sehen. Weil er Angst um mich gehabt hatte oder um den Brief?
Die SS -Leute gaben uns den Befehl loszugehen. Während wir das Tor passierten, fragte Amos mich leise: «Ist dir was geschehen?»
Mir war viel geschehen. Dinge, die mich bestimmt für immer verfolgen würden. Und dann wiederum war mir nichts von dem Schrecklichen passiert, das mir hätte zustoßen können. Ich hatte Glück gehabt. Und, so realisierte ich in diesem Augenblick, auch selbst etwas für dieses Glück getan. Hätte ich mit dem Ausziehen nicht so lange gezögert, die eine Socke nicht so lange anbehalten und nicht in Kauf genommen, die Ohrfeige zu kassieren, hätte sich der SS -Mann an mir vergangen, bevor der Offizier hineinkam. Der hätte dann bestimmt, wenn es das fette Schwein nicht bereits vorher getan hätte, den Brief auf dem Boden entdeckt, und ich wäre im Gefängnis zu Tode gefoltert worden. Weil ich aber das vermeintlich Unvermeidbare herausgezögert hatte, ohne jegliche Hoffnung, heil aus der Situation rauszukommen, hatte ich das Allerschlimmste vermieden. Ich lebte, ich war sogar unversehrt, und der Brief war noch unter meiner Fußsohle. Er besaß mit einem Mal wieder eine Bedeutung für mich. Der Widerstand war für mich noch wichtiger als je zuvor: Diese Männer, die mir alles, was ich liebte, und soeben auch beinahe meine Würde genommen hatten, sollten sterben!
«Mira?» Amos sorgte sich, weil ich ihm noch nicht geantwortet hatte.
«Nein», erklärte ich, «mir ist nichts geschehen.»
«Das ist gut», lächelte er, aus tiefstem Herzen erleichtert. Er fragte nicht nach dem Brief. Ihm war es um mich gegangen. Nicht um den Widerstand. Nur um mich.
45
Auf der anderen Seite des Tores erwartete uns eine fast schon fremde Welt. Hatten wir seit Monaten in einer Geisterstadt gelebt, pulsierte nun um uns herum das Leben. Begleitet von den Soldaten, gingen wir mit dem Arbeitertrupp vorbei an Läden, die gerade öffneten, an Cafés, in denen Menschen ihren Frühstückskaffee hastig runterstürzten, und an einer Schule, in die polnische Kinder liefen, um noch rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn zu erscheinen. Sicher ahnten diese Kinder gar nicht, wie gut sie es hatten, dass sie in eine Schule gehen durften. Das hatte ich ja auch nicht gewusst, bevor die Deutschen kamen und meine schlossen.
Überall gingen oder fuhren Polen zur Arbeit. Die meisten von ihnen würdigten uns Juden keines Blickes, einige wenige sahen uns voller Verachtung an. Niemand gab ein Zeichen der Sympathie, des Mitgefühls oder der Aufmunterung. Amos und ich spürten so unmittelbar, wie egal wir Juden der polnischen Bevölkerung waren, auch wenn wir mit den Deutschen gemeinsame Feinde besaßen. Egal oder gar verhasst.
Plötzlich riss die Wolkendecke über uns auf, und die ersten Sonnenstrahlen seit Wochen schienen auf uns herab. Fast so als ob die Sonne uns verspotten wollte, dass sie nur über dem polnischen Teil der Stadt schien, lieber über Polen und Deutschen als über den lebenden Geistern des Ghettos.
All diese Reize überfluteten mich. Der Lärm auf den Straßen, die vielen Menschen, der strahlende Himmel – es war, als ob ich aus einem dunklen leeren, toten Raum wie unserer
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