281 - Bausteine des Lebens
bei der Heiligen scheint es so zu sein. Nun müssen wir herausfinden, ob es auf und alle zutrifft.«
Während ein Raunen aufklang und sich besorgte Blicke trafen, trat Mecloot vor und nickte. »Ich werde es an mir testen«, sagte er mit fester Stimme. Er zückte ein kurzes Messer, das er immer bei sich trug - und stach sich mit der scharfen Spitze in die dünne Haut seines Unterarms.
Augenblicklich bildete sich ein erster Blutstropfen. Wie gebannt blickte die Dörfler darauf, sahen, wie er dicker und reifer wurde und schließlich am Arm herablief, gefolgt von weiteren Tropfen, die aus der kleinen Stichwunde quollen.
»Und?«, fragte Teggar. »Spürst du die Heilkraft?«
Mecloot schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Kein Kribbeln. Auch diese Wunde schließt sich nicht.« Teggars Berater blieb ruhiger, als er sich fühlte.
Der Chiiftan sah einen besorgten Glanz in den Augen seines Freundes. Offenbar dachte er an die Situation mit dem gebrochenen Bein vor einem Jahr, die er wohl nur als Krüppel überstanden hätte, wäre das Geschenk des Hüters nicht bald darauf wieder in Kraft getreten. Teggar seufzte und blickte der Wahrheit ins Auge.
»Es ist also wahr«, sagte er laut. »Der Segen des Hüters hat uns abermals verlassen. Noch wissen wir nicht, für wie lange. Hoffen wir darauf, dass er bald zurückkehrt. Bis dahin müssen wir besser auf uns achten als zuvor! Vermeidet also gefährliche Situationen!« Er sah auf die Heilige Frau, die sich mit den von der Erde dreckigen Fingern über die Wunde rieb. Mit einem schnellen Griff packte er ihre Rechte und zog sie weg. »Und bedenkt auch, dass eine einfache Infektion nun schlimme Folgen haben kann«, fügte er seinem Appell hinzu.
***
Das Geschenk des Hüters war tatsächlich dauerhaft von ihnen genommen worden. Chiiftan Teggar wusste nicht, warum dies so war. Aber seit jenem Morgen vor zwei Monden hatte sich ihr Schicksal grundlegend gewandelt.
Zum ersten Mal, seit sie vor ewigen Zeiten an den See gekommen waren, musste sich die Dorfgemeinschaft mit dem Thema Krankheit auseinandersetzen. Der kalte Winter machte den Menschen zu schaffen, raubte ihnen die Kraft und bescherte ihnen Erfrierungen und den Rotz, der bald im gesamten Dorf um sich griff. Kaum einer, der nicht für ein paar Tage durch Husten und Schnupfen völlig lahmgelegt war.
Zum Glück erinnerte sich die Heilige Frau an Heilkräuter und Rezepte, die in so einem Fall helfen konnten. Sie hatte damit begonnen, entsprechende Vorräte der Pflanzen anzulegen, nachdem die eitrige Entzündung, die sich in ihrer Handwunde gebildet hatte, auskuriert war. Noch war es fraglich, ob sie genug Arzneien für den gesamten Winter herstellen konnte, aber bisher hatten ihre Künste wahre Wunder bei den Dorfbewohnern gewirkt.
Diese waren neben den ungewohnten physischen Belastungen durch Krankheiten auch stressbedingt nicht auf der Höhe ihrer Leistungsfähigkeit. Die Ernte hatte sich hingezogen, als die Krankheiten auszubrechen begannen; teils waren Früchte an den Bäumen verfault, weil niemand sie erntete und alle darauf bedacht waren, Messer, Pflüge und andere potenzielle Gefahrenquellen für Verletzungen zu meiden.
Da konnten auch die Standpauken des Chiiftan, sich gefälligst zusammenzureißen, nicht viel bewirken. Die Männer und Frauen blieben vorsichtig und arbeitsscheu, verbrachten ihre Tage lieber damit, in warme Decken gehüllt vor dem Totem des Hüters zu sitzen und zu beten, er möge ihnen die Unsterblichkeit zurückgeben.
Die Frage nach dem »Warum?« war längst verstummt. Es gab offenbar keinen für sie erkennbaren Grund, warum der Hüter so entschieden hatte. Wäre er über die Umbettung seiner Gebeine von der Insel ins Dorf erbost gewesen, so hätte er es ihnen sicher sofort gezeigt und nicht so lange gewartet. Und auch sonst konnte er sich nicht beklagen, denn sie hatten in ihrer Anbetung seiner Gebeine niemals nachgelassen.
Um den Jahreswechsel herum geschah erneut etwas Unerwartetes.
Die Wachmänner auf den Türmen meldeten, dass sich eine große Gruppe Menschen aus Ruuks Dorf aufgemacht hatte. Sie zählte mehr als dreißig Menschen, sie sich mit einigen Holzkarren und Gespannen Richtung Nordwesten bewegten. Auch Ruuk war unter ihnen, wie man Chiiftan Teggar berichtete.
Neugierig, was der verfeindete Bruder und seine Sippe planten, hatte Teggar ihnen einen Spähtrupp hinterher geschickt, die sie so weit wie möglich - also bis zur Grenze des Verbotenen Landes - verfolgen sollten.
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