2895 - Zeugen leben nicht lange
Erstaunen noch deutlicher aus.
»Coburn hat Sie entführt und am Leben gelassen? Kaum zu glauben«, erwiderte sie.
Jetzt teilten wir immerhin schon das Erstaunen über diese ungewöhnliche Handlungsweise ihres Freundes.
»Es ist ja nicht so, dass ich mich selbst befreit hätte. Coburn hat mich nach einer Weile einfach wieder laufen lassen. Wie finden Sie das?«, fuhr ich fort.
Wie sehr es ihr Weltbild erschütterte, bewies der Griff zum Glas. Anna Kotcharev trank einen großen Schluck Bourbon, den sie zuvor noch verweigert hatte. Ich konnte fast sehen, wie ihre Gedanken durcheinanderwirbelten.
»Seth Coburn hat sich einen extrem unzuverlässigen Auftraggeber ausgesucht, der mit seinem Verhalten auch die Sicherheit Ihres Freundes gefährdet«, sagte ich.
Weder Phil noch ich erwarteten, dass eine Frau vom Kaliber Kotcharevs uns auch nur die kleinste Information zukommen lassen würde. Das war auch gar nicht das Ziel dieses Gesprächs. Es musste mir jedoch gelingen, eine erhebliche Verunsicherung bei ihr auszulösen.
»Seit wann macht sich das FBI denn Sorgen um das Wohlergehen eines Killers? Ich wüsste auch nicht, dass Seth einen Freund beim FBI hätte«, sagte Anna.
Ich schüttelte den Kopf und beugte mich vor.
»Keinen Freund, Anna. Er hat mich aber nicht getötet, und dafür schulde ich Seth etwas. Er muss wissen, dass er sich auf einen außergewöhnlich gefährlichen Menschen eingelassen hat. Sein Auftraggeber reißt Ihren Freund mit in den Abgrund, Anna. Das sollte er wissen, meinen Sie nicht?«, antwortete ich.
Es war ein Tanz mit Worten. Meine Andeutungen sollten den Eindruck erwecken, dass ich bestehendes Wissen nicht mit der Killerin teilen wollte. Ich hoffte sehr, dass es mir wenigstens zum Teil gelang. Fiel Anna Kotcharev darauf herein oder witterte sie die Falle?
»Und Sie erwarten jetzt von mir, dass ich Ihnen Coburn auf dem silbernen Tablett serviere?«, fragte sie höhnisch.
Ich lehnte mich mit einem Seufzer zurück.
»Nein, so weit gehe ich nicht. Geben Sie mir nur eine Mobilfunknummer, unter der ich Seth erreichen kann. Meinetwegen kann er auch ein Treffen an einem Ort seiner Wahl vorschlagen. Ich wäre bereit, das Risiko einzugehen«, erwiderte ich.
Erneut nippte die Killerin an ihrem Glas und studierte meine Mimik. Es war mir anscheinend gelungen, in ihr den erwünschten Zweifel zu säen. Wenn ja, führte sie uns unbeabsichtigt zu Seth Coburn. So war jedenfalls unser Plan.
»Sie sind ein faszinierender Mann, Agent Cotton. Es ist gut, dass Seth Sie nicht getötet hat. Falls sich Ihre Wege aber noch einmal kreuzen sollten, dürften Sie nicht so viel Glück haben. Lassen Sie es einfach auf sich beruhen. Seth ist schon ein großer Junge und kann gut auf sich selbst aufpassen«, sagte Anna.
Anschließend stürzte sie den Bourbon mit einem Schluck hinunter und erhob sich. Ihre Bewegungen verrieten die Anspannung, unter der sie stand. Vermutlich traute sie uns immer noch eine Falle zu und war deswegen extrem vorsichtig. Ich schaute ihr wortlos nach, wie sie das Büro verließ.
»Jetzt wird es spannend«, sagte Phil.
Er stieß sich von der Schreibtischkante ab, während ich mich aus dem Klubsessel erhob. Auf dem Gang vor dem Büro trafen wir auf Antonow, der mir zufrieden zunickte.
»Sie haben Wort gehalten, Agent Cotton. Das merke ich mir«, sagte er.
Phil und ich machten uns auf den Weg, um der Killerin nicht zu viel Vorsprung zu gewähren. Zum Glück war mein findiger Partner so schlau gewesen, sich um einige technische Unterstützung bei der Verfolgung Anna Kotcharevs zu kümmern.
***
Die Voraussicht meines Partners erwies sich als bitter nötig. Anna Kotcharev fuhr einen Porsche 911 Carrera und verstand es, den Sportwagen geschickt zu lenken. Auf dem Broadway überschritt sie mehrfach die zulässige Höchstgeschwindigkeit, bog zweimal ohne jedes Zeichen urplötzlich in eine Abfahrt ein und zog beim zweiten Versuch in letzter Sekunde zurück in die ursprüngliche Fahrspur.
»Wenn wir sie nur auf Sichtkontakt verfolgen würden, hätte sie uns längst abgehängt«, sagte ich.
Mein Partner nickte zustimmend und behielt dabei die Anzeige auf dem Monitor in der Mittelkonsole im Blick.
»Sie scheint ihrem Ziel näher zu kommen, Jerry. Anna schlägt keine Haken mehr und hält sich mittlerweile seit fünf Meilen an die Geschwindigkeitsbegrenzung«, sagte Phil.
Ich überschlug im Kopf die Fahrtrichtung und kam zu dem Schluss, dass es nach Garden City ging. Phil stimmte meinen
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