292 - Chimären
damals auch den ZERSTÖRER mitgenommen?«
»Nein, das haben sie nicht. Erinnere dich, dass ich von fünfhundert Jahren sprach, die er nun hier ist. Atlassa ist hingegen vor mehr als fünftausend Jahren untergegangen. Trotzdem wurde der ZERSTÖRER bereits in Atlassa gefangen gehalten.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Gemach«, sagte Lobsang Champa. Seine Erzählungen waren so plastisch, dass sie als szenische Gemälde vor Matts geistigem Auge entstanden…
Atlassa, 3114 v. Chr.
Es war ein wunderschöner Frühlingstag, viel zu schön für düstere Gedanken. Die Sonne brannte strahlend vom Himmel, Vögel zwitscherten, alles war still und friedlich. Gwadain saß im weitläufigen Garten vor seinem Haus und stöberte in einer Handvoll Pergamente. Er liebte es, seinen Lebensabend damit zu verbringen, in alten Schriften zu lesen. Seit einigen Jahren schon lebte er an der Südküste Atlassas. Die Regierung hatte ihm hier, wie vielen anderen, die sich ein Leben lang in den Dienst des Reiches gestellt hatten, ein großzügiges Heim überlassen.
Gwadain genoss die Ruhe und Beschaulichkeit, aber der Trubel der Königsstadt mit ihrer nie erlahmenden Geschäftigkeit fehlte ihm doch ein wenig. Er blickte irritiert auf, als sich ein Schatten vor die Sonne schob.
Schützend hob er die Hand an die Augen. Nun konnte er das Luftschiff deutlich erkennen. Ein silbernes Kurierboot aus der Königsstadt!
Das Luftschiff landete nicht weit von Gwadain am Strand. Er ging ihm entgegen. Markos, einst einer seiner Schüler, stieg aus der Gondel.
»Mein Weg führt mich nicht nur in die Nähe. Ich bin geschickt worden, um dich zu holen«, sagte Markos nach herzlicher Begrüßung.
»Mich? Wohin?«
»Zur Königsstadt. Du wirst gebraucht.«
»Pah. Wer sollte dort schon einen alten Mann wie mich brauchen?«
»Die Göttin Khom.«
Die Göttin Khom! , hallte es in Gwadains Gedanken. Ein Schatten legte sich über sein Gesicht. »Ist also doch etwas dran an den Gerüchten, die übers Land ziehen? Die Gerüchte von dem Himmelskörper, der unser aller Existenz bedroht?«
»Ja.«
Gwadain traf die Göttin im Königspalast. Er hatte sie schon gekannt, als sie noch das Mädchen Inanna gewesen war. Sie lächelte.
»Ich freue mich, dass du meinem Ruf gefolgt bist, Gwadain.«
»Ich freue mich ebenfalls, dich zu sehen, Göttin. Welche Aufgabe hast du für mich?«
»Es ist eine überaus wichtige Aufgabe und du bist ihrer würdig. In dem Bergmassiv des Kailash gibt es ein Bauwerk, das während des Großen Krieges errichtet wurde. Und seit diesen Tagen liegt dort etwas behütet, das niemals wieder das Licht des Tages erblicken darf.« Sie sah Gwadain durchdringend an. »Selbst wenn es zum Schlimmsten kommt, selbst wenn dieses Reich untergeht, darf das nicht geschehen.«
»Es ist mir eine Ehre, wenn ich meine letzten Tage in den Dienst des Reiches stellen kann.«
Am späten Nachmittag setzte das Kurierschiff Gwadain hoch oben in den Bergen ab. Ein Diener erwartete ihn und führte ihn in das Bauwerk, von dem nicht viel mehr als ein steinernes Tor zu sehen war. Die wahren Ausmaße des Gebäudes, das sich tief ins Bergmassiv hinein zog, lernte Gwadain erst in den darauf folgenden Stunden kennen, als er mit dem Diener durch die unzähligen Gänge und Kammern schritt.
»Was ist es, das ich zu bewachen habe?«, fragte Gwadain schließlich.
»Ein Aymish, ein ZERSTÖRER«, antwortete der Diener.
Gwadain blieb erbleichend stehen. Er drohte den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Der Weltuntergang weckte Gwadain irgendwann. Ein gewaltiger Schlag erschütterte das Bauwerk und das gesamte Bergmassiv. Der alte Mann wurde von der Liegefläche geschleudert und prallte auf der anderen Seite des Raumes schwer gegen die Steinwand. Blutend kam er wieder auf die Beine und schleppte sich nach draußen.
Es war finster. Aber hätte es nicht noch Tag sein müssen? In der Luft lag ein tiefes Grollen, immer wieder unterbrochen von ohrenbetäubendem Krachen. Der Boden unter ihm benahm sich wie ein bockendes Pferd.
Als er auf Atlassa weit unten am Meer hinabsah, überstieg der Anblick alles, was er sich in seinen schlimmsten Träumen hätte ausmalen können. Die Insel war trotz der Finsternis an vielen Stellen taghell erleuchtet. Kilometerlange Risse, in denen es glutrot leuchtete, zogen sich über das Land.
Gwadain hob den Kopf und sah mit Entsetzen den riesigen Riss, der sich in der Flanke des Kailash hoch über ihm gebildet hatte. Glutflüssiges Gestein
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