292 - Chimären
Tagträumen scheint sich ein Spalt zu den Kammern meiner früheren Leben zu öffnen.«
»… und in Notsituationen«, fügte Matt hinzu. »Deshalb erinnerst du dich an Sprachen, die du irgendwann einmal gesprochen hast, oder an besondere Fertigkeiten als Arzt oder Konstrukteur oder Gelehrter.«
Xij nickte. »Richtig. Allerdings reichten diese Flashbacks bislang nur bis zum ersten Leben nach Francesca zurück. Alle Erinnerungen, die davor lagen, waren in der Gedankensphäre gespeichert. Unbewusst muss ich das immer geahnt haben, daher meine Sehnsucht nach Agartha. Nur hier konnte ich mich mit meinen alten Leben vereinen.«
»Das heißt, du hast jetzt die Leben aus Tausenden von Jahren in deinem Kopf?«, fragte Aruula.
»Im Grunde: ja«, antwortete Xij. »Aber sie halten sich verschlossen, damit mir nicht dasselbe passiert wie Alastar, dessen Verstand die Gedankenflut nicht verkraftet hat. Ich werde mich an jedes einzelne erinnern - mit den Jahren, nach und nach. Es wird so sein wie bisher: Wenn es nötig wird, werde ich auf alte Erfahrungen zugreifen können. Nur mit dem Unterschied, dass mir die Erinnerungen ab sofort erhalten bleiben.«
»Wow«, ließ sich Rulfan vernehmen. »Damit wirst du einmal die klügste Frau des Planeten sein.«
»Bin ich das nicht jetzt schon?« Xij grinste frech.
Dabei sah es in ihrem Inneren weit weniger aufgeräumt aus, als sie es nach außen vorgab. Immer wieder musste sie an Francesca denken, deren Erinnerungen nun in ihr lebendig waren - auch jene, in der Gedankensphäre wiederholt vergewaltigt worden zu sein, von jemandem, der sich an die Maschine angeschlossen hatte, um sie zu quälen.
Ich werde den anderen nichts davon sagen , beschloss Xij. Chan wird meiner Rache nicht entgehen. Ich weiß ja, wo ich ihn finde…
»Aber du bist doch weiterhin Xij?«, fragte Aruula etwas unsicher und holte sie damit in die Gegenwart zurück.
Sie lächelte. »Na klar, wer sonst? Francescas Geist ist in mir aufgegangen, sie ist längst Vergangenheit. Und jetzt starrt mich nicht an wie das achte Weltwunder. Machen wir uns lieber Gedanken darüber, wie wir auf schnellstem Weg zurück nach Euree kommen.«
Epilog
In der Lava am Grund der Spalte regte sich etwas. Ein Kopf brach durch die blubbernden Blasen, Schultern und Oberkörper schoben sich nach. Mit zwei kräftigen Schwimmstößen erreichte das Wesen die steil aufragende Felswand und hielt sich daran fest. Das rot glühende, flüssige Gestein tropfte langsam an dem hammerförmigen Schädel ab. Die seitlich sitzenden Augen blickten nach oben. Über den kleinen Ausschnitt des strahlend blauen Himmels zog gerade ein Luftschiff.
Der ZERSTÖRER scannte die Gondel. Er sah die Welt in farbigen Flächen, die ständig ihre Form und Farben veränderten. Inmitten des dunkelblauen Luftschiffs erkannte die Chimäre rot glühende Flächen mit menschlichen Umrissen.
Eine davon war der Feind .
Der ZERSTÖRER konnte ein einmal eingepeiltes Ziel und dessen Spur mit seinen besonderen Sinnen über viele hundert Kilometer wittern.
Langsam kletterte die Chimäre die Felswand empor, stemmte sich schließlich aus dem Lavaspalt.
Und machte sich auf, dem Feind zu folgen.
ENDE
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