2935 - Leichen lügen nicht
York einen Hauch von Arktis. Maronenhändler, die ihre Verkaufsstände längst für den Sommer eingemottet hatten, hatten sie wieder flottgemacht und machten gute Geschäfte. Und die Bewohner der verschlafenen Einkaufsstraßen, die noch nicht dazu gekommen waren, die Weihnachtsbeleuchtung abzubauen, waren plötzlich stolz auf ihre weise Voraussicht.
»Was hältst du von dem Kerl?«, wollte Phil wissen.
»Für jemanden, der mit einem goldenen Löffel im Mund auf die Welt gekommen ist, scheint er wirklich was auf dem Kasten zu haben.«
»Stimmt«, nickte Phil. »Kein Typ, der einfach den großen Boss markiert. Sein Schreibtisch sah nach Arbeit aus.«
»Und wie er mit den Leuten gesprochen hat, war auch nicht ohne. Der weiß, wovon er redet, und seine Leute spuren.«
»Er hat nur eine Schwäche«, schränkte Phil ein. »Er ist ein Tyrann und duldet keinen Widerspruch. Solche Typen haben oft eine hässliche Seite, die nur wenigen bekannt ist.«
»Doktor Jekyll und Mister Hyde?«
»Warum nicht?«
Schweigen.
»Glaubst du, er hat etwas mit dem Mord an Nancy West zu tun?«
»Gute Frage. Wenn er sich in Vollmondnächten tatsächlich in eine andere Person verwandelt, wäre es durchaus vorstellbar.«
Phil warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Sie enthielt eine Mondphasenanzeige.
»Vollmond haben wir erst wieder in zehn Tagen«, stellte er nüchtern fest.
»War nicht wörtlich gemeint.« Ich bog rechts in die Flushing Avenue ab und fädelte mich in den spärlichen Verkehr ein. »Aber wenn bei ihm tatsächlich noch eine andere, dunkle Seite existiert, ist er genauso verdächtig wie Joe Cumber.«
Auf dem Parkplatz eines Wal-Mart lieferten sich ein paar Jungs eine Schneeballschlacht. Eins ihrer Geschosse strich haarscharf an der Windschutzscheibe des Jaguar vorbei.
»Was war das denn für ’ne komische Nummer von wegen er hätte Nancy West noch nie vorher gesehen?«
»Vielleicht stimmt es ja«, gab ich zu bedenken.
Phil sah mich von der Seite an, als mache er sich Sorgen um meine Gehirnleistung.
»Aber er hat sie doch mal bei ihren Eltern abgeliefert. Das haben sie uns doch selbst erzählt. Schon vergessen?«
»Vorausgesetzt, es war tatsächlich Sam Sullivan«, erwiderte ich ruhig.
Meinen Partner brauchte einen Moment, bis er diesen Gedanken mit allen seinen Konsequenzen durchdacht hatte.
»Du meinst …«
»Es könnte doch jemand gewesen sein, der sich nur als der erfolgreiche Produzent ausgegeben hat«, spann ich meinen Gedanken weiter. »Vielleicht um anzugeben. Oder einfach mal den dicken Max zu markieren.«
»Und was ist mit Nancy? Hat sie das Spiel mitgespielt?«
»Vielleicht. Möglicherweise war sie aber auch gar nicht dabei.«
»Sondern?«
»Ist gleich in ihr Zimmer gegangen und hat sich umgezogen. Oder frisch gemacht.«
Phil dachte darüber nach. »Du hast recht, so könnte es gewesen sein«, gab er schließlich zu. »Und was würde das bedeuten?«
»Ganz einfach: Wir sind keinen Schritt weitergekommen«, bemerkte ich trocken.
Die Stockholm Street war eine der adretten, kleinen Straßen, von denen es viele in Queens gibt. Zweistöckige Wohnhäuser mit gepflegten Vorgärten, dazwischen urige Tante-Emma-Läden, Reparaturwerkstätten im Familienbetrieb, Delis und hin und wieder ein Dunkin Donut .
Genau das, was man eine bevorzugte Wohngegend nennt.
Die Spedition, für die Joe Cumber arbeitete, lag etwas zurückgesetzt hinter einem schicken Fitnessstudio für Frauen.
Ich parkte den Wagen auf dem Hof und fragte einen Mann in Holzfällerhemd und Cowboystiefeln nach dem Chef der Firma. Er deutete auf einen flachen, weißen Container.
»Da ist sein Büro. Er verlässt es nur zum Feierabend. Und wenn er ein dringendes Bedürfnis hat.«
»Haben Sie Joe Cumber heute schon gesehen?«
»Joe ist krank.«
»Sie wissen nicht zufällig, wo er sich aufhält?«
Plötzlich blitzte Misstrauen in seinen Augen auf. Er musterte uns prüfend von oben bis unten.
»Wer will das wissen?«
Wir zeigten ihm unsere Dienstmarken. Er betrachtete sie eingehend von allen Seiten. Dann gab er sie uns zurück.
»Hat er was ausgefressen?«, fragte er.
»Schönen Tag noch, Cowboy«, lächelte Phil breit und zog mich mit zu der schlichten Baracke.
***
Die Tür war nicht verschlossen, also traten wir ein. Augenblicklich umfing uns der schwere Qualm schwarzer Brasilzigarren. Der Verursacher der dicken Luft saß in einem hellbraunen, mit Brandflecken übersäten Kunstledersessel vor einem 27-Zoll-Bildschirm und pfiff
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