294 - Der Keller
gaben auch die Letztem auf. Viele, wie meine Großeltern, zogen in sichere Entfernung. Doch was heißt schon sicher? Mittlerweile tauchen auch dort öfter Pueraquilas auf.«
Als Xij Freydoons Worte für die anderen übersetzt hatte, sagte Matt: »Wir sind sogar in beachtlicher Entfernung von hier, in Ostdoyzland, auf sie gestoßen.«
Xij gab es nach kurzem Zögern weiter.
»Was ist?«, fragte Matt. »Hätte ich das nicht sagen sollen?«
Xij schüttelte den Kopf. »Doch, doch. Wie solltest du wissen, was ich mit diesen Kreaturen verbinde?«
»Sag es mir.«
Sie nickte. »Nachher. Wenn wir unter uns sind.«
Nach dem Essen zogen sich die Dechsenreiter zurück und verabschiedeten sich bis zum nächsten Morgen.
»Ich bin auch müde«, sagte Aruula.
Was sich aber schlagartig änderte, als Xij ankündigte, dass sie ihren Freunden nun erzählen wollte, was sie mit Tah Ran verband - und auf welchen Wegen sie überhaupt hierher gekommen war, denn geboren war sie in dem Leben, um das es ging, ganz woanders.
»In Alytus«, sagte sie. »Als Monstrosität. Zumindest sagten das damals die Leute…«
Und mit diesen Worten begann sie von Jurgis Kolitz' zu erzählen. Angefangen bei der Siechen Olga, ihrem damaligen Vater Paavel und ihrer Mutter Aljescha, die sich vor lauter Verzweiflung das Leben nahm - bis hin zu dem Moment, da Alvarus Grauberg in Jurgis' Leben trat und sich doch noch alles zum Guten zu wenden schien…
***
Vergangenheit, 2466
Fast ein Jahr lebte Jurgis nun schon in der Obhut des Magisters Grauberg in dessen weitläufigem Stadthaus in Vilnius. Es gab dort eine umfangreiche Büchersammlung - Grauberg nannte sie »Bibliothek« oder »Wissensschatz« - und eine Dienerschar, die sich um das Wohlergehen des Gelehrten kümmerte, aber auch jederzeit für Jurgis' Wünsche zur Stelle war.
Die Zeit im Keller hatte der Hermaphrodit längst abgestreift und hinter sich gelassen wie eine alte Schlangenhaut.
»Hermaphrodit« - so nannte Grauberg ihn, und er hatte Jurgis auch erklärt, was dieses Wort bedeutete. Es bezeichnete einen Menschen, der aus der Masse hervorstach, weil er nicht einfach nur Mann oder Frau war, sondern beide Geschlechter in sich vereinte.
Die Leute in Alytus, so erfuhr Jurgis, waren mit dieser Laune der Natur nicht zurechtgekommen und hatten sie als Monstrosität verurteilt. »Ihre Unwissenheit, was die Spielarten des Lebens angeht«, hatte Grauberg ihm erklärt, »hat sie in den Aberglauben flüchten lassen, du seist ein Versuch Orguudoos, Ausgeburten der Hölle unter die Menschen zu streuen.«
Jurgis war sehr erschrocken, als er das hörte, aber Grauberg beruhigte ihn und versicherte seinem Schützling, dass nichts abwegiger als solch ein Gedanke sei.
Nachdem er dies verdaut und angenommen hatte, merkte Jurgis, dass ihn die Erkenntnis, sowohl männliche als auch weibliche Merkmale zu tragen, sehr viel länger und sehr viel stärker beschäftigte. Er geriet in seine erste Sinnkrise, die nur deshalb entstand, weil er unter der Anleitung des Gelehrten bereits so viel Verstand entwickelt hatte.
Grauberg bemerkte dies wohl, und er leistete dem Halbwüchsigen seelischen Beistand, wo immer er konnte.
Jurgis entwickelte sich rein äußerlich zu einem gutaussehenden jungen Mann mit fein geschnittenen Gesichtszügen und einem sehnigen Körper, dessen Teint schon nach wenigen Wochen in Freiheit eine gesunde Farbe angenommen hatte. An Kleidung trug er das, was Grauberg ihm spendierte - und dies sah in aller Regel ähnlich aus wie das, was Grauberg selbst am Leibe trug.
Die tägliche Körperertüchtigung hielt Jurgis in der Anfangszeit von längerer Grübelei über sich selbst ab. Meist fiel er schon früh abends in sein Bett und in einen Schlaf, der so randvoll mit Träumen war, dass er anderentags schon müde aufstand.
Doch beides - seine physische und psychische Konstitution - besserte sich rasant, und je fitter er wurde, desto mehr setzte er sich mit seiner Herkunft und seinem einzigartigen Wesen auseinander.
Jeder Bedienstete des Gelehrten war über Jurgis' Natur im Bilde, aber sie alle hatten auferlegt bekommen, nichts davon nach außen zu tragen. Ob sie sich daran hielten, vermochte auch Grauberg nicht mit Gewissheit zu sagen.
Aber das Anwesen des Magisters war vom Rest der Stadt mit hohen Mauern in einer Weise abgeschottet, dass sich Jurgis irgendwann fragte, welchen Grund es dafür geben mochte. Denn dieser Schutz konnte nichts mit ihm zu tun haben; die Mauern waren alt und schützten
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