294 - Der Keller
flüssig, aber das Schreiben fiel ihm überaus schwer.
Sie war besänftigt. »Jedenfalls stachen mir Begriffe ins Auge, die im Zusammenhang mit deinem Namen standen.«
Jurgis hatte ein Gefühl, als schließe sich eine kalte Hand um sein Herz. Er zitterte noch stärker. »Was für… Begriffe?«
»Es ist schrecklich, ich habe den ganzen Tag mit mir gerungen, ob ich mich denn getäuscht habe. Aber vorhin… der Herr hatte sich zur Nachtruhe begeben… schlich ich mich in seine Stube und zu dem Schrankfach. Ich konnte nicht anders, als es zu öffnen, auch wenn ich damit meine Stellung und mehr riskiere. Und hier ist es…« Sie griff sich in den Ausschnitt ihres schlichten Kleides und zog einen knisternden Bogen Papier hervor, der eng mit Tinte beschrieben war. »Allerdings dachte ich, du könntest es selbst lesen. Ob du mir glaubst, wenn ich es dir vorlese…?« Sie zuckte mit den schmalen Schultern.
Er blickte sie forschend an und fand kein Falsch in ihrem Gesicht. »Lies es mir vor, bitte…«
»Bist du sicher?« Sie zögerte. Dann gab sie sich einen Ruck. »Aber was frage ich. Du musst es ja erfahren, sonst…«
Und so nahm sie das Papier und las Jurgis im Schein der wabernden Lampe vor, was der ehrenwerte Magister Alvarus Grauberg ihm für eine Bestimmung zugedacht hatte, auch wenn seine Niederschrift von Gewissensbissen gespickt war.
»›… kann nicht mehr ruhig schlafen, ein Angebot wie dieses aber auch nicht ausschlagen. Der geheimnisvolle Ausländer, den ich in Belarus traf, versprach mir mehr Reichtum für meinen Schützling, als ich ihm je bieten könne. Aber er drohte mir auch, dass es mit meinem Wohlstand rasch vorbei sein könne, falls ich sein Ersuchen ablehnen würde. Ich traue es ihm zu, denn er ist kein Blender und scheint über unglaubliche Verbindungen zu verfügen.
Ich bin hin und her gerissen. In drei Nächten will er mich besuchen, und dann erwartet er, dass ich ihm den hübschen Zwitter bereithalte. Im Gegenzug bekomme ich ein Vermögen, das mir für den Rest meines Lebens sorgenfreien Luxus beschert.
Jurgis will er auch nicht für sich selbst, sondern für seine Auftraggeber, denen seine besondere Natur zu Ohren gekommen ist. Was er mir andeutete, verschlägt mir auch jetzt noch den Atem, aber es darf mich nicht daran hindern, an mich selbst zu denken. Ich bin kein schlechter Mensch, doch wenn ich Jurgis nicht verkaufe, war alles Streben der Vergangenheit letztlich umsonst. Ich fürchte, ich werde das Vertrauen des Hermaphroditen missbrauchen müssen. In drei Tagen muss ich ihn am Abend in einen Zustand versetzen, in dem er wehrlos ist und gar nicht mitbekommt, wie ihm geschieht, wenn man ihn abholt.
Ich weiß nicht einmal, wohin man ihn verschleppen will. Der Allmächtige - ob er nun Gott oder Wudan genannt wird - sei meiner Seele gnädig.‹«
Als das Flüstern des Mädchens endete, war Jurgis wie gelähmt. »Das hast du nicht erfunden?«, ächzte er. »Schwöre es mir!«
»Ich habe nichts erfunden, es steht alles schwarz auf weiß hier.« Sie tippte auf das Papier. »Ich muss es zurücklegen, bevor er es vermisst. Aber vorher muss ich wissen, was du dazu sagst.«
»Er… will mich verkaufen wie ein Stück Vieh…«
Sie nickte. »Es tut mir leid. Aber ich konnte es nicht für mich behalten. Ich kann nicht zulassen, dass dir so etwas angetan wird!«
»Es gibt keinen Ausweg«, sagte er tonlos. »Nun weiß ich es zwar, aber ich kann mich nicht dagegen wehren. Es sei denn, ich bringe mich um. Was gäbe es denn auch, was mich jetzt noch im Leben halten könnte?«
***
Jurgis verbrachte die folgenden beiden Tage kränkelnd und weltabgerückt in seinem Bett, zu schwach, um selbst Hand an sich zu legen. Alvarus Grauberg besuchte ihn in dieser Zeit mehrere Male und erkundigte sich nach seinem Befinden. Jurgis blieb stets einsilbig, während es in ihm rumorte und er nicht fassen konnte, dass der Magister ihm den Ahnungslosen vorspielte. Ohne das Papier wäre er völlig arglos gewesen und hätte die Besorgnis des älteren Mannes für bare Münze genommen.
Mehrmals stand Jurgis kurz davor, seinem habgierigen Mentor ins Gesicht zu brüllen, dass er die Wahrheit kenne. Doch dann resignierte er. Und als Alvarus Grauberg an jenem Abend, den er in seiner Niederschrift angekündigt hatte, eigenhändig ein Glas mit duftendem Tee an sein Bett brachte, war Jurgis fast bereit, sich mit seinem Schicksal abzufinden.
Schon hielt er den Becher in der Hand, um ihn in einem Zug auszutrinken und damit
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