294 - Der Keller
Jurgis' bisherigem Leben. Und als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug und Jelena immer noch in seinem Arm liegend vorfand, war er überzeugt, dass ihr gemeinsamer Traum von Freiheit und Liebe eine Zukunft hatte.
***
An einem kleinen See abseits der großen Straße, die nach Minsk führte - eine Stadt von fast legendärem Klang, über die Jurgis und Jelena auf ihren Märschen viel gehört hatten, die sie aber lieber mieden - errichtete das junge Paar eine kleine Hütte, um für eine Weile zumindest sesshaft zu werden. Das Gewässer war fischreich, das hatten sie gleich bemerkt, und die Uferumgebung bot viele versteckte Plätze. Bei ihren Wanderungen um den See herum waren Jurgis und Jelena auf keinen anderen Siedler getroffen, was sie letztendlich dazu bewegte, den nahenden Winter tatsächlich hier zu verbringen, wo ihnen Wasser, Fische und auch Kleinwild zur Verfügung standen.
Alvarus Grauberg und sein unbekannter Interessent gerieten immer mehr in Vergessenheit. Jurgis hoffte und glaubte, dass die Verfolger, wenn es überhaupt je welche gab, inzwischen ihre Nachstellungen aufgegeben hatten. Zu groß war das Land; die Chancen, sie ausfindig zu machen, waren minimal. Sie hatten sich stets bemüht, nirgendwo aufzufallen oder überhaupt in Erscheinung zu treten. Meist waren sie fernab der angelegten Wege marschiert und nur ganz selten auf andere Menschen gestoßen.
Der erste Winter erwies sich als noch viel härter, als sie es sich hatten vorstellen können. Dennoch harrten sie aus… und wurden durch einen unglaublichen Frühling, einen traumhaften Sommer und einen zwar stürmischen, aber auch sehr ertragreichen Herbst entschädigt.
Jelena zeigte Jurgis, wie man Wildsträucher mit geringem Aufwand veredelte, was sie wiederum von ihrem Großvater erlernt hatte, bei dem sie groß geworden war. Ihre Eltern waren beide an Eiskäfer-Infektionen gestorben und schon als Dreijährige war sie zur Vollwaisen geworden und hatte zu den Großeltern väterlicherseits ziehen müssen. Im Nachhinein ein Glücksfall, aber mit zwölf hatte sie erst den Tod der Großmutter und wenige Jahre später auch den des Großvaters verkraften müssen. Kurz darauf hatte sie bei Magister Grauberg angefangen.
In stillen Stunden - an denen es nicht mangelte - erzählten sie sich gegenseitig Erinnerungen, wobei Jurgis sich anfangs zurückhielt, weil ihn seine Jahre im Keller noch immer belasteten. Aber Jelena erwies sich auch hier als einfühlsam, drängte nie und wartete, bis er eines Tages selbst bereit war, sich Dinge von der Seele zu reden.
So wuchsen sie immer mehr zusammen. Der zweite Winter war um einiges milder als der erste, zudem hatten sie bereits so viel Erfahrung gesammelt, was das Leben und Überleben in freier Natur anging, dass sie auch die frostige Jahreszeit genießen konnten wie schon Frühling, Sommer und Herbst.
Die Jahre vergingen wie im Flug. In einem Sommer hatten sie eine Stechmückenplage, aber der strenge Winter danach tötete die meisten Eier und Larven im seichten Gewässer ab. Nach wie vor bestand ihr täglicher Speisezettel hauptsächlich aus dem, was der See oder die bewaldete Ufergegend ihnen an Fisch, Wild und Früchten schenkte. Jurgis hatte sich ein kleines Floß gebaut, mit dem er bis zur Seemitte fuhr, wo sich die kapitalsten Fische tummelten, und Jelena hatte aus den Rindenfasern ein Netz geflochten, das er nur auswerfen und wieder einholen musste, um genug Nahrung für ein paar Tage zu fangen.
Schwieriger wurde es in Wintern, in denen der See komplett und bis auf eine Dicke von zwanzig Zentimetern zufror. Dann bediente sich Jurgis anderer Fischfangtechniken, für die er erst einmal ein Loch ins Eis hacken musste, um danach mit Ködern zu angeln.
Am besten bissen die Fische erstaunlicherweise bei Eiskäfern, die es auch hier gab - allerdings nur in den Sommermonaten. Deshalb hatte Jurgis sich ein »Ködergelege« geschaffen, in dem er die Käfer züchtete.
Im dritten Sommer stellten sie plötzlich fest, dass Jelena sich veränderte. Sie bekam Rundungen, die nicht nur sie selbst überraschten, sondern auch Jurgis, und zunächst glaubten sie tatsächlich, es läge am guten Appetit, den Jelena in der frischen Luft entwickelt hatte. Doch bald dämmerte ihnen dann doch, was wirklich dahintersteckte: Ihr fast tägliches enges Zusammensein war nicht folgenlos geblieben, Jelena erwartete ein Kind!
Dem Schreck wich die Freude. Sie liebten einander, und ein Kind würde diese Liebe noch größer werden
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