294 - Der Keller
das zu tun, was der Magister von ihm erwartete, da ging plötzlich die Tür des Zimmers auf und das Mädchen, von dem er inzwischen erfahren hatte, wie es hieß, trat ein.
»Jelena…«
»Steh auf, kleide dich an und komm!« So energisch hatte sie noch nie gesprochen.
Jurgis rührte sich nicht.
»Was ist das?«, fragte sie und zeigte auf den Becher in seiner Hand. »Hast du etwa schon davon getrunken?«
Er schüttelte den Kopf. »Aber ich werde es.« Er hob ihn an die Lippen.
Sie sprang vor und schlug ihm das Trinkgefäß aus der Hand. Der Inhalt ergoss sich über Bett und Boden.
Jurgis blickte zornig zu Jelena auf.
»Gut so. Sei wütend. Aber nicht auf mich. Wenn, dann auf dich selbst und auf den, der dir so Schreckliches antun will!«
»Es ist doch sinnlos«, murmelte er. »Wozu soll ich mich wehren? Ich bin es gewohnt, hintergangen und getäuscht zu werden…«
Sie zerrte an seinem Arm. »Zieh dich jetzt an! Sofort! Und dann komm - ich liefere dir den letzten Beweis, dass ich dich nicht belogen habe. Sie sind angekommen…«
Jurgis wusste sofort, wen sie meinte, und erstaunlicherweise rüttelte ihn die Mitteilung nun doch auf.
»Dreh dich um…«
Kopfschüttelnd tat sie, was er wollte. Rasch schlüpfte er aus dem Bett und stieg in die bereitliegenden Kleider.
Sie wartete ungeduldig, huschte zur Tür und lauschte in den Gang. »Beeil dich!«
Schließlich war er so weit und folgte ihr auf Zehenspitzen nach draußen. »Wohin…?«, flüsterte er.
»Still!«
Wenig später erreichten sie ein Zimmer, in das Jelena den Hermaphroditen schob. Mit dem Zeigefinger auf den Lippen signalisierte sie ihm, weiter ruhig zu sein, und führte ihn zu einer zweiflügeligen Zwischentür, die stark verzogen war, sodass ihr mittiger Spalt stellenweise breit wie ein Daumen war.
Hinter der Tür waren Stimmen zu hören. Jelena forderte Jurgis wortlos auf, durch den Spalt zu blicken. Er gehorchte und sah, dass sie sich genau neben jenem Kaminzimmer befanden, in das der Magister ihn gerufen hatte, als seine Abenteurer ihn besuchten.
Auch jetzt war Grauberg nicht allein. Ein einzelner Fremder war bei ihm. Er war mindestens einen Kopf größer als der Gelehrte und überragte ihn selbst im Sitzen. Sein Haar war kurzgeschoren, die scharf geschnittenen Züge mit der Hakennase und den schmalen Lippen waren wettergegerbt.
Der Fremde beherrschte Graubergs Sprache, wenn auch mit unüberhörbar hartem Akzent. Schnell wurde klar, dass sie sich über Jurgis unterhielten. Vor dem Magister lag auf einem kleinen Tischchen ausgebreitet ein Vermögen an Edelsteinen, Goldschmuck und anderen wertvollen Dingen.
»Damit wäre mein Teil der Abmachung erfüllt. Kann ich nun das Mischwesen haben?«
Grauberg wirkte unglücklich, nickte aber. »Ich werde gleich nachsehen, ob das Mittel schon wirkt.«
»Nicht gleich - jetzt! Draußen warten meine Leute. Sie werden mit dir gehen. Und wenn er nicht getrunken hat, werden sie die Sache auf ihre Weise regeln. Haben wir uns verstanden?«
Grauberg nickte eingeschüchtert und stand auf.
Jelena zog Jurgis von der Tür weg, aber nicht zurück auf den Gang, sondern zu einem Fenster, das sie offenbar schon vorher geöffnet und nur angelehnt hatte.
»Was soll das bedeuten?«, wisperte er ihr zu.
»Das bedeutet, dass wir verschwinden werden - sofort. Ich habe alles vorbereitet…«
Er war völlig verdutzt. »W-wir?«
»Ich kann und will hier nicht länger bleiben. Keine Stunde. Und jetzt komm. Wir haben keine Zeit zu verschwenden. Gleich werden sie deine Abwesenheit bemerken, und dann…«
Sie zog ihn nach draußen in die Dunkelheit des Gartens auf der Rückseite des Hauses.
Jurgis schluckte. Dann ließ er sich einfach leiten. Während der ganzen nun folgenden Flucht beobachtete er sich selbst wie einen Fremden. Jelena hatte leichtes Spiel mit ihm.
Sie führte ihn erst zu einer Stelle der Mauer, wo eine Leiter bereitstand, und dann - während hinter ihnen Alarm geschlagen wurde - in Bereiche von Vilnius, die er noch niemals zuvor betreten hatte.
Jelena aber kannte sich bestens aus.
In dieser Nacht wurde sie zu seinem Engel.
Und sie blieb es noch lange Zeit danach.
***
Für die Anfangszeit hatte Jelena etwas Proviant organisiert und an der Mauer um Graubergs Anwesen versteckt. Bei ihrer Flucht nahmen sie ihn mit, und für die ersten paar Tage litten sie keinen Hunger. Doch irgendwann war das Essen aufgebraucht. Zu diesem Zeitpunkt bewegten sie sich in Sichtweite einer Straße, aber in
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