2x Professor Manstein
den nächsten Zug nach Hause. Während der Fahrt hatte er genügend Gelegenheit, ein Resumé zu ziehen aus allem, was ihm bisher aufgefallen war. Signale, die immer noch blau leuchteten, wenn sie die Fahrt freigaben, machten ihn darauf aufmerksam, daß er es sich selbst schuldig sei, seine Gedanken nun endlich in Ordnung zu bringen.
In seinem Abteil, in dem außer ihm nur noch eine ältliche Dame saß, begann er – ungeachtet der verweisenden Blicke, die er sich dadurch zuzog – leise vor sich hinzumurmeln.
„Ad 1: Ein Unbekannter, der genauso aussieht wie ich, nähert sich mir auf dem Bahnsteig und verschmilzt mit mir. Ad 2: Ich lese eine Zeitung, die ich am Tage vorher schon einmal gelesen habe – obwohl mein Zeitungshändler im allgemeinen ein sehr aufmerksamer Mann ist.
Ad 3: Signale und Verkehrsampeln leuchten blau.
Ad 4: Ein Sonnabend ist in Wirklichkeit ein Freitag.
Ad 5: Jemand, der mich aus unbekannten Gründen nicht leiden mag, versucht mich zu überfahren.
Ad 6: Man versucht, mich an Vorfälle zu erinnern, an die ich mich beim besten Willen nicht erinnern kann – von denen ich sogar bereit wäre zu beschwören, daß sie in meinem Leben nie vorgefallen seien.
Ad 7: Ich bin der festen Überzeugung, daß ich seit einer Woche keine Zahnpasta mehr habe; dabei liegt eine volle Tube im Bad.
Ad 8: Jemand, der dem unter Ad 5 genannten sehr ähnlich sein muß, wenn nicht sogar identisch mit ihm, fesselt meine Frau und versucht, unser Haus in die Luft zu jagen.
Ad 9: Ich bekomme Briefe von einem Unbekannten, der mich ein mathematisches Problem lösen läßt, das er selbst offensichtlich schon seit langem gelöst hat.
Ad 10: Ein Taxichauffeur versucht, mich zu entführen; bei diesem Versuch schlage ich ihn mit der bloßen Faust tot und erfahre hinterher, daß er einen völlig abnormalen Körperbau besitzt.“
Nach dieser Zusammenfassung lehnte er sich in seine Polster zurück, steckte sich eine Zigarette an und stellte dann ebenso halblaut die Frage:
„Nun, mein lieber Manstein, welche Folgerungen ziehen wir daraus?“
Manstein war kein Mensch, der sich von Vorurteilen besonders belastet fühlte. Als Junge von dreizehn Jahren hatte es ihm keine Schwierigkeiten bereitet, fest daran zu glauben, daß für einen Mann, der sich mit sehr hoher Geschwindigkeit gegenüber einem Beobachter bewegte, die Zeit langsamer verginge als für den ruhenden Beobachter – eine Überzeugung, zu der sich, obwohl sie formelmäßig durch die Physik fundiert war, manch anderer Mensch sein ganzes Leben lang nicht durchringen konnte. Jetzt, nach der ersten Erregung über die ersten Ergebnisse seiner Arbeit, begann er ebenso vorurteilsfrei seine augenblickliche Situation zu begutachten.
„Du hast“, so sprach er leise zu sich selbst, „deinen Standort gewechselt. Von den nahezu unendlich vielen Universen, die der fünfdimensionale Raum beherbergt, hast du bis zu jenem verhängnisvollen Sonnabend in einem, von dann ab aber in einem anderen gelebt. Die beiden Räume unterscheiden sich nicht sehr deutlich von einander – immerhin sind in dem einen die Ampeln grün, in dem anderen blau. In dem einen hat Manstein einen roten Fleck auf der Schulter, in dem anderen nicht. In dem einen hat Reukauf ein durchaus ordentliches Seminar gehalten, in dem anderen hat er einen bösen Bock geschossen. In dem einen …“
Seine Gedanken begannen ihn zu belustigen. Er lachte vergnügt vor sich hin. Die Matrone ihm gegenüber stand auf, packte mit beleidigtem Gesicht ihre Sachen zusammen und verließ das Abteil mit der halblauten Verwünschung:
„Es müßte verboten werden, daß Nervenkranke frei herumlaufen!“
Manstein war jedoch nicht in der Stimmung, in der jemand ihn hätte beleidigen können. Er setzte sein Selbstgespräch fort.
„Kein Zweifel, alter Junge, daß diese Erkenntnis umwälzende Änderungen in deinem Leben mit sich bringt! Barbara, mit der du es in den letzten Tagen zu tun hattest, ist nicht eigentlich deine Frau! Sie ist die Frau des Manstein, der in diesen Raum gehört! Trotzdem unterscheidet sie sich in keiner Weise von der Frau, die du in deinem eigenen Raum geheiratet hast! Die Situation beginnt verwickelt zu werden, nicht wahr?“
Dann fiel ihm noch etwas anderes ein.
„In diesem Raum hast du Feinde, die dir nach dem Leben trachten! In deinem eigenen Raum hattest du sie nicht! Abgesehen von den blauen Ampeln und dem fehlenden roten Fleck auf der Schulter scheint es also in diesem Raum etwas zu geben, was ihn
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