3 - Wächter des Zwielichts
dann schlüpfte er seitlich nach unten weg - der Zug hatte ihn hinter sich gelassen.
Wann immer ich von diesem Vampirtrick gehört hatte, hatte ich ihn als reines Phantasieprodukt abgetan. Selbst in Nachschlagewerken stand unter dem Eintrag zu den Möglichkeiten »in der realen Welt durch Wände und Fenster zu gehen«, ein verschämtes »n.b.«, ein »nicht bewiesen«.
Im Abteil lagen zwei Inquisitoren in einem formlosen Haufen. Sie waren derart zerfetzt, dass niemand auf die Idee kam, ihren Puls zu fühlen.
Der dritte hatte Glück gehabt, er saß auf einer Liege und hielt sich eine Bauchwunde. Der Boden schwamm in Blut.
Die Reisenden in den oberen Liegen schrien nicht mehr. Der eine hatte den Kopf unter ein Kissen gesteckt, der zweite sah mit starren Augen nach unten und kicherte leise.
Ich kroch unterm Tisch hervor und trat auf wackligen Beinen in den Gang hinaus.
Fünf
Wie sagt der Held in einem bösen alten Witz: »Aber das Leben richtet sich jetzt wieder ein!«
Die Mitreisenden in unserem Waggon saßen in ihren Abteilen und starrten mit leeren Augen zum Fenster raus. Die Menschen, die durch unseren Waggon liefen, beschleunigten aus irgendeinem Grund den Schritt und blickten stur geradeaus. In einem abgeschlossenen Abteil lag - zusammen mit den in schwarze Plastiksäcke verpackten Körpern - der verletzte Inquisitor, den ein Kollege bereits seit einer Viertelstunde mit Heilzaubern behandelte. Zwei weitere Inquisitoren standen an der Tür zu unserem Abteil Wache. »Wie bist du darauf gekommen?«, fragte Edgar.
Nachdem er zunächst seinem verletzten Kollegen geholfen hatte, kurierte er meinen Kiefer binnen drei Minuten. Ich fragte nicht, was ich gehabt hatte, eine schlichte Quetschung, einen Riss oder einen Bruch. Er war wieder in Ordnung, das genügte. Allerdings fehlten mir zwei Vorderzähne, und die Stelle mit der Zunge zu berühren, war unangenehm.
»Ich habe mich an etwas aus dem Fuaran erinnert...«, sagte ich. In den chaotischen ersten Minuten nach Kostjas Flucht hatte ich genug Zeit gehabt, mir eine Erklärung zu überlegen. »Die Hexe ... also, Arina ... sie hat gesagt, dass der Legende zufolge die Zauber aus dem Fuaran wirken, wenn man das Blut von zwölf Menschen hat. Selbst wenn es nur sehr wenig Blut ist...«
»Warum bist du nicht schon früher damit herausgerückt?«, fragte Edgar scharf.
»Ich habe dem keine Bedeutung beigemessen. Damals hielt ich die ganze Geschichte mit dem Fuaran für ein reines Phantasieprodukt ... Dann hat Kostja mir erzählt, dass sein Cocktail aus dem Blut von zwölf Spendern besteht ... und da habe ich zwei und zwei zusammengezählt.«
»Verstehe. Viteszlav hatte kein Dutzend Menschen zur Hand«, meinte Edgar. »Wenn du das gleich gesagt hättest... wenn du das doch bloß gesagt hättest...« »Kennst du die Zusammensetzung des Cocktails?«
»Ja, natürlich. In der Inquisition ist über den Sauschkin-Cocktail diskutiert worden. Das Zeug vollbringt keine Wunder, du wirst damit nicht stärker, als es dir von der Natur gegeben ist. Aber es erlaubt einem Vampir in der Tat, sich voll zu entfalten, ohne Menschen töten zu müssen...« »Sich zu entfalten oder sich gehen zu lassen?«, fragte ich.
»Wenn kein Mord nötig ist, kann man ohne Bedenken von Entfaltung sprechen«, antwortete Edgar sachlich. »Nun sag bloß nicht, du hättest... davon nichts gewusst...« Ich schwieg.
Nein, ich hatte es nicht gewusst. Denn ich hatte es nicht wissen wollen. Ich wollte ein Held sein. Mit dem Ergebnis, dass jetzt zwei Inquisitoren in schwarzen Plastiksäcken liegen, denen niemand mehr helfen kann...
»Lassen wir das«, meinte Edgar. »Was hat er nur jetzt ... Er fliegt, siehst du?«
Ich schielte zum »Kompass« hinüber. Ja ... ganz offenbar. Der Abstand zu Kostja - genauer zum Buch - blieb konstant, obwohl der Zug mit einer Geschwindigkeit von mindestens 70 bis 80 Stundenkilometern dahinraste. Er flog uns also nach. Floh nicht!
»Anscheinend hat er in Zentralasien wirklich etwas vor ...«, sagte Edgar irritiert. »Nur was...« »Wir müssen die Großen rufen«, sagte ich.
»Die kommen von selbst«, winkte Edgar ab. »Ich habe ihnen alles berichtet, ein Portal aufgehängt ... sie werden selbst entscheiden, was sie tun.«
»Ich weiß schon, was sie entscheiden werden«, murmelte ich. »Sebulon verlangt, dass ihm Kostja ausgeliefert wird, damit er ihn bestrafen kann. Und vor allem wird er das Fuaran haben wollen.«
»Das Buch wird niemand bekommen, da mach dir keine
Weitere Kostenlose Bücher