30 Sekunden Verzögerung
nicht, wieviel Bewohner dieses geniale Versteck beherbergt, aber wenn es nur einige Hunderte sind, so werden erhebliche Mengen von Lebensmitteln benötigt.“ Es war eine Fangfrage, die Zen gestellt hatte. Würde Nedra sie erkennen? Es interessierte ihn nicht im geringsten, woher der Mais und die Butter stammten, die er soeben zu sich genommen hatte, aber er wollte in Erfahrung bringen, wieviel Leute sich in den Tunnels und Gängen aufhielten. Nedras Antwort enttäuschte ihn.
„Was wir tatsächlich an Lebensmitteln gebrauchen, ist sehr gering“, sagte sie.
„Wie kommt das? Essen die Leute hier nicht?“
„Wollen Sie mich aushorchen?“ fragte Nedra, und ihre Stirn krauste sich. „Dann muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß ein solches Vorgehen hier unten als schlechtes Benehmen gewertet wird. Genau so wie der Versuch, die Gedanken des anderen zu lesen. Ich halte es für notwendig, Sie darüber zu informieren.“
Schweigend starrte Zen vor sich hin. Warum erwähnte sie die zweite Möglichkeit? Waren die Wesen, die hier unten lebten, in der Tat fähig, die Gedanken anderer zu erraten? Zen mußte an den vergangenen Abend denken, als er ein leicht bekleidetes junges Mädchen bei seinen Übungen beobachtet hatte. War sie etwa fähig gewesen, zu lesen, was hinter seiner Stirn vorging? Er errötete bei dieser Vorstellung, und Nedra bemerkte es natürlich.
„Oberst, Sie haben einen roten Kopf bekommen“, sagte sie und zwinkerte ihm zu.
„Unsinn“, wehrte Zen verlegen ab. „Ich habe mich verschluckt, das ist alles. Warum sollte ich rot werden? Ich habe mir gerade überlegt, ob Sie …“
„Ob ich imstande bin, Ihre Gedanken zu erraten? Soll ich darauf eine Antwort geben? Ich sagte Ihnen doch, daß derartige Versuche bei uns als unfein gelten.“
„Unfein oder nicht, ich habe den Eindruck, daß Sie genau wissen, was ich denke.“
„Es gehört nicht viel dazu, die Gedanken eines Mannes zu erraten, wenn es sich um eine schöne Frau dreht“, sagte Nedra schnippisch. „Es genügt, ihm ins Gesicht zu sehen, dort steht alles geschrieben.“
Sekundenlang war Zen verblüfft, dann faßte er sich. Spielte sie mit ihm? Trieb sie ihre Scherze mit ihm? Dann war er gern bereit, das gleiche Spiel zu spielen.
„Wenn Sie also alles über mich wissen – wie steht es nun mit uns?“ fragte er und blickte sie herausfordernd an.
Sie verstand seine Frage. Für den Bruchteil einer Sekunde spiegelten ihre Augen Bedauern, als sei sie von ihm enttäuscht, als habe sie mehr von Zen erwartet. Dann aber funkelte sie ihn übermütig an. „Ich sagte Ihnen bereits …“
„Ja, ich weiß! Sie möchten mein Gehirn einer gründlichen Wäsche unterziehen. Gut, wenn Sie es für durchaus erforderlich halten. Aber nicht jetzt. Ich bin noch hungrig, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten.“
Nedra stand auf, um Zens Teller noch einmal zu füllen. „Sie sind einer der sonderbarsten Männer, die mir je begegnet sind“, murmelte sie. „Und einer, der es sehr eilig zu haben scheint, obendrein.“
Er sah, daß sie seine Andeutungen verstanden hatte, und spielte den Erstaunten. „Jetzt fangen Sie davon an“, nickte er grinsend. „Ich dachte, wir wären übereingekommen, das Thema einstweilen fallen zu lassen.“
„Wenn ich eilig sagte, so meinte ich Ihre geistige Schnelligkeit“, verteidigte Nedra sich schwach. „Im übrigen sollten Sie es sich abgewöhnen, Ihrem Gesprächspartner das Wort im Munde umzudrehen. Hier, essen Sie! Wenn Sie fertig sind, will Sam Sie sprechen.“
„Soso, Sam will mich sprechen“, wiederholte Zen ohne große Begeisterung. Er war durchaus nicht in der Stimmung, den Mann mit dem zerfurchten Gesicht zu sehen, aber es würde ihm wohl keine Wahl bleiben. Er mußte die Frage klären, ob man ihm seine Waffe und die Ausrüstung weiterhin vorenthalten wollte, und die Entscheidung würde nur jemand treffen können, der Befehlsgewalt hatte. Nach Zens Meinung war Sam West die geeignete Person.
Der Mann mit dem zerfurchten Gesicht befand sich allein in dem Raum, zu dem Nedra Zen führte, nachdem er seinen Hunger gestillt hatte. West stand mit dem Rücken zur Tür, als sie eintraten, drehte sich aber sofort um. Er gab ihnen einen Wink, näherzutreten und ging voraus an ein kleines Fenster, das den Blick nach draußen freigab.
Kurt Zen sah auf eine der schönsten Landschaften hinab, die sein Auge je erblickt hatte. Dicht vor dem Fenster fiel eine Klippe fast hundert Meter steil ab, eine glatte Wand
Weitere Kostenlose Bücher