301 - Libretto des Todes
später kam Gunnter völlig übernächtigt aus seinem Arbeitszimmer. Seine verquollenen Augen leuchteten. »Es funktioniert«, sagte er zu Matt, dem die Haushälterin gerade das Frühstück servierte. »Ich habe Teile des Librettos bereits umgeschrieben. Aber ich brauche mehr Informationen über die Originalopera, die mir deine Freundin heute hoffentlich geben kann. Doch selbst dann befürchte ich, bis zum Auftrittstermin nicht ganz fertig zu werden. Deswegen muss ich dringend meinen alten Freund Wahnfried besuchen und über eine Fristverlängerung mit ihm sprechen. Willst du mich nach Barreut begleiten, Maddrax?«
Natürlich nahm Matt die Einladung an. Mit einem Horsaygespann fuhren sie in die Stadt und benutzten dabei ein Stück weit die Otowajii, die ehemalige A 9, deren Verlauf trotz Gras- und Moosbewuchs noch deutlich sichtbar war. Laut Gunnter wurde die Otowajii bis Neenbeech, dem ehemaligen Nürnberg, sauber und befahrbar gehalten, weil sie eine ausgezeichnete Handelsstraße darstellte.
Barreut erwies sich als Spiegelbild anderer postapokalyptischer Städte. Die Außenbereiche waren großteils verfallen, viele Häuser abgerissen, in den Ruinen und auf den gestrüppüberwucherten Schuttbergen nisteten Gerule und andere gefährliche Tiere, aber auch menschliche Subjekte, die die Gesellschaft ausgestoßen hatte. Auf zwei Zufahrtsstraßen sorgten patrouillierende Soldatentrupps, die sich Fraanks nannten und jeweils von einem Oberfraank angeführt wurden, auf den problematischen Abschnitten für die Sicherheit der Reisenden.
In der Innenstadt pulsierte dagegen das Leben. Es war Markttag, der laut Gunnter immer auch viele hundert Menschen von außerhalb in die Stadt zog.
Der Operateer, der von einigen Passanten freundlich gegrüßt wurde und huldvoll zurücknickte, stoppte das Horsaygespann vor einem großen Eckhaus am Ende einer Häuserzeile. Arkaden umliefen es. Ein Leibarbeiter in Livree fragte nach ihrem Begehr. Dann wurden sie eingelassen. Kurze Zeit später standen sie Wahnfried in einem reich ausgestatteten Rokoko-Zimmer gegenüber.
Matt verschlug es den Atem. Eine derart wuchtige Präsenz, die alles in näherer Umgebung platt machte, hatte er schon lange nicht mehr erlebt. Selbst wenn diese Präsenz wie ein lebender Fleischberg in einem gepolsterten Sessel hing und kaum hoch kam. Zwei seiner Leibarbeiter halfen ihm und hatten dabei sichtlich Mühe.
Wahnfried war einen halben Kopf größer als Matt. Er trug einen derart mächtigen Bauch spazieren, dass sich Matthew unwillkürlich an Jabba the Hutt aus »Star Wars« erinnert fühlte. Doch im Gegensatz zu ihm umrahmten schulterlange graue Locken das fette Gesicht mit den großen Kulleraugen. Das mächtige Doppelkinn schwabbelte bei jedem Schritt, von denen Wahnfried allerdings nicht viele machte, da sie ihm sichtlich schwerfielen. Er trug schwarze Hosen und eine blaue Weste, die mit Goldbrokatborten abgesetzt war.
»Ah, prächtig, mein alter Freund Gunnter kommt mich besuchen«, sagte er mit Stentorstimme und verzog sein Gesicht zu einem feisten Grinsen. »Wie ich sehe, hast du jemanden mitgebracht. Dein neuer Liebhaber?«
»Das wüsste ich aber«, erwiderte Matt laut.
Wahnfried wollte sich nicht mehr einkriegen vor Lachen und ließ sich gleich wieder zurück in seinen Sessel plumpsen. Gunnter stellte Maddrax kurz vor. Dann sprudelte es auch schon aus ihm heraus: »Wahnfried, du musst mir unbedingt einen Gefallen tun. Etwas Großartiges hat sich ereignet! Dieser Mann kommt aus dem fernen Meeraka, wo die Geschichte des ›Fliegenden Neederlanders‹, so wie sie Meister Wagner verarbeitet hat, noch bekannt ist. Er selbst hat die Opera zwar nie gesehen, aber seine Freundin, die leider krank bei mir zu Hause liegt, kennt sie zur Gänze!«
Das hatte Matt zwar nie behauptet, hoffte aber auf Xijs unglaubliches Wissen. Und wenn nicht... würde ihre Fantasie sicher ausreichen, die fehlenden Lücken zu schließen.
Wahnfried bekam den Mund nicht mehr zu. »Wirklich und wahrhaftig?«, flüsterte er. »Das... das ist ja großartig.«
»Du wirst sicher verstehen, dass ich aufgrund dieser neuen Informationen das Libretto für den Krieg der Operateere umschreiben muss«, führ Gunnter fort. »Leider hast du aber meinen Auftritt als Ersten angesetzt, und bis dahin kann ich unmöglich fertig werden. Deswegen bitte ich dich, mein lieber Wahnfried: Tausche unsere Auftritte. Lass Annder zuerst ran und gewähre mir die beiden zusätzlichen Tage. Und tu mir bitte den
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