302 - Wo der Wahnsinn regiert
Grundmauern geschliffen worden. Solange die Ostmänner im Land wüteten, konnte er kein neues errichten. Aber er war nicht bereit, seinen Traum aufzugeben.
Längst hatte Rudowigu eine neue Idee, die ihn nicht mehr losließ. Er wollte nach Bavaria. Er wollte den Ort sehen, den Ludwig der Zweite erbauen ließ, und das Schloss – das echte Schloss – aus seinem Dornröschenschlaf erwecken. Er war überzeugt davon, dass der Bau noch stand. Aber selbst wenn er ihn mit Hilfe von Barbaren Stein um Stein wieder errichten musste, war ihm das recht.
Seine Medikamente wurden immer besser, und während die Technos in anderen Bunkern nicht an die Oberfläche konnten, ohne massive Verluste hinzunehmen, starben in seinem Volk nur noch die Schwachen und Kranken, wenn sie nach oben gingen. Sobald er genug Medikamente entwickelt und produziert hatte – vielleicht sogar in einer Implantatversion – konnte er seinen großen Traum wagen: den Exodus. Den Auszug zum Ursprung seiner Verehrung.
Es gab einige im Bunker, die seinen Traum teilten oder doch zumindest einfach an die Oberfläche wollten, egal wohin. Akuma dagegen erklärte ihn vor allen anderen Führungskräften seines Volkes für verrückt. Er wollte Rudowigu nicht länger als König anerkennen und sich in eine Gesellschaft fügen, die seiner Meinung nach antiquiert war.
»Du überschätzt unsere Kampfkraft und unsere Leidensfähigkeit bei Weitem«, warf er Rudowigu auf einer Sitzung des Kommandostabs vor, der inzwischen Königsstab hieß. »Du willst uns am Rand des Kratersees entlang und über die wilden Lande bis nach Doyzland führen, wo wir doch nicht einmal die Ostmänner besiegen können?«
»Die Ostmänner wollen uns vernichten. Wir aber werden nicht kämpfen, wenn wir es nicht müssen. Mit unseren letzten beiden Panzern und den Laserwaffen können wir größere Ansammlungen der Barbaren umgehen. Wenn wir Nipoo erst verlassen haben, sind wir uninteressant für sie.«
Stefaan breitete die Arme aus. »Ein Leben an der Sonne. Ein Schloss nur für uns. Ist es nicht genau das, was sich unsere Vorväter und Mütter seit Generationen erträumen? Lasst uns der Enge des Bunkers entkommen und etwas Neues erschaffen. Der Mensch ist nicht gemacht, um unter der Erde zu leben wie ein Maulwurf.«
Rudowigu sah die Zweifel in den Gesichtern. Viele fanden sein Vorhaben aberwitzig. Er musste hart durchgreifen, wenn er nicht den Respekt seines Volkes verlieren wollte. Im Bunker herrschten strenge Regeln und eine eiserne Disziplin. Er war der oberste Bunkerkommandant, und nur ihm stand es zu, endgültige Entscheidungen zu treffen. Lauernd sah er seinen Bruder an.
»Ist dein Rat klug, Bruder? Kannst du überhaupt klug beraten und umsichtig sein? Vergiss nicht: Du, Akuma, warst für ein Halten des Schlosses gegen die Ostmänner. Wie viele Tote hat uns das vor der Flucht gekostet?«
Akuma senkte den Kopf. »Einundzwanzig, Masao.«
Rudowigu sprang auf. Schon seit einem Monat führte er zu seiner europäisch geschnittenen Kleidung ein Samurai-Schwert, das er nun zog. »Ich heiße Rudowigu!«, donnerte er durch den Raum. Er wurde selten laut und galt unter den anderen als ausgesprochen umgänglich, solange sie sich an die Regeln hielten. Nun zogen sie alle die Köpfe ein. »Und ich bin der König! Ordne dich mir unter und folge mir in meinem Orden nach Doyzland, oder begehe Seppuku!« [7]
Akuma starrte ihn an. »Du bist wahnsinnig geworden«, flüsterte er. »Wahnsinnig! Du solltest uns nicht mehr anführen. Trete freiwillig zurück, ehe es zu spät ist.«
Rudowigu hob die Klinge. »Durch dich sprechen der Neid und die Habsucht. Du willst meinen Posten, ist es nicht so?«
»Ich will das Beste für die Menschen, die uns unterstehen.«
Rudowigu wandte sich an Stefaan und zwei andere noch sehr junge Kommandanten, die ihm treu ergeben waren. »Ihr habt es gehört. Er will meinen Rücktritt und verbreitet Lügen über mich. Schafft ihn fort. Ich bin es leid, dass er ewig Zwietracht sät. Er ist ein Querulant und Konspirateur. Er soll in einer Gefängniszelle darüber nachdenken, auf wessen Seite er steht.«
Sie führten seinen protestierenden Bruder hinaus und keiner wagte es, aufzubegehren. Jeder Einzelne von ihnen stand entweder auf seiner Seite oder hatte Furcht, es könne ihm ebenso ergehen wie Akuma.
Rudowigu aber war nicht zufrieden. Sein Bruder war zu weit gegangen und würde dieses Mal nicht glimpflich davonkommen. Er musste ihm eine Lektion erteilen, die er niemals vergaß
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